Willi Sitte – Eine biografische und kritische Rückschau in der Moritzburg Halle

Daniel Thalheim

Er ist ein Vergessener. Zumindest für die kunsthistorische Forschung war er es lange Zeit. Wenn ein Maler stellvertretend für die Kunst in der DDR gestanden hat, ist es Willi Sitte (1921-2013). Seit Anfang Oktober zeigt die Moritzburg Halle eine große Ausstellung über den Künstler, dessen Werk faktisch fast an jeder Giebelwand irgendeines Dorfes oder an Schulen und LPGs klebte; Bäuerinnen, Bauern, Arbeiter, Karl Marx und die Apoteose des Sozialismus. Von künstlerischen Positionen innerhalb der Leipziger Schule bald schon abgelehnt, nach der Wiedervereinigung auf das historische Abstellgleis malerischer Verfehlungen gestellt, erfährt Willi Sittes Werk und Biografie in seiner einstigen Wirkungsstadt eine kritische Bestandsaufnahme.

„Das Schlimmste, was einem OEuvre geschehen kann, ist dessen Ignoriert-
werden und wissenschaftliche Quasi-Nichtexistenz“, sagt der Direktor des Kunstmuseums Moritzburg Halle Thomas Bauer-Friedrich zur aktuellen Sonderschau. Sie ermöglicht das erste Mal seit 1986 einen umfassenden Blick auf Sittes Gesamtwerk, das von den Anfangsjahren um 1940 bis in die frühen 2000er Jahre reicht. „Ich bin überzeugt, dass es für jeden Besucher der Ausstellung Entdeckungen zu machen und Neues zu erfahren gibt, denn kaum einer hat heute noch eine Vorstellung von Sittes Welt in toto, sondern stets ist es nur ein Teil, der noch im Bewusstsein verankert ist. Die Ausstellung zeigt, dass es DEN Willi Sitte nicht gibt.“

Wer war DER Sitte?

Wer die beiden Begleitbände zur aktuellen Sitte-Schau studiert, erfährt tatsächlich viel Neues zum Vorzeige-Maler der DDR. Erstaunlich sind seine Brüche in seiner Biografie. Sitte tritt in der von Paul Kaiser (Kulturstudien Dresden) und Thomas Bauer-Friedrich (Moritzburg Halle) seit drei Jahren vorbereiteten und recherchierten kuratierten Schau „Sittes Welt“ als Anpassungskünstler hervor, der in jedem bestehenden System eine Rolle einnahm – mal freiwillig, mal unfreiwillig.
Herausragend sind die Recherchen zu Sittes Biografie. Sie legen offen, dass Sitte offenbar in seinem Lebenslauf abbog, um in der Sowjetischen Besatzungszone Fuß fassen zu können. War in der DDR bekannt, dass er in Italien als Wehrmachtssoldat den italienischen Partisanen überlief. Das war wohl nicht ganz der Fall. Er geriet in Gefangenschaft und das zu einem späteren Zeitpunkt als er angegeben hatte. Die kleine Notlüge half, dass Willi Sitte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1947 im Auftrag der SED-Landesleitung Sachsen-Anhalt nach Halle (Saale) kam. Hier begann er, sich im Umfeld der Burg Giebichenstein endgültig als Maler zu qualifizieren. Besaß er noch vorm Krieg bereits eine zeichnerische Ausbildung und eine entsprechende handwerkliche Sicherheit. In Halle (Saale) gehörte Sitte zu den Künstlern, die nach dem Ende der NSDAP-Herrschaft im bewussten Anknüpfen an die zwischen 1933 und 1945 als „entartet“ geächtete Klassische Moderne, wie bspw. Neue Sachlichkeit, Expressionismus, einen künstlerischen Neuanfang im Sinne stalinistischer Ideen und Kunstpositionen voranbrachten. Während Sitte anfangs auch in Westdeutschland Achtungserfolge feiern konnte, in der DDR bis zu seiner Emeritierung zu einer ordentlichen Professur einbrachte sowie zahlreiche führende Positionen einnahm und den Nachwuchs förderte, galt er gegen Ende der DDR schon als künstlerisch überholt. Obschon er sich während seiner Professur und künstlerischen DDR bis in die 1960er Jahre hinein immer wieder nachsagen lassen musste, eben nicht dem Formalismus des „Bitterfelder Weges“ zu entsprechen. Was auch weitestgehend unbekannt ist, sind in den beiden neuen Bänden beschriebenen Kontakte zu späteren Dissidenten wie Wolf Biermann. Während der Formalismusdebatte, die man auch in den Entstalinisierungsprogrammen in der DDR eingebettet sehen muss, unternahm Sitte 1961 zwei Selbstmordversuche. Hier ähnelt sich die biografische Fokus dem des Leipziger BAUHAUS-Künstlers Karl Hermann Trinkaus (1904-1965), der den Freitod aus politischen Gründen suchte und ihn so mit den Entstalinisierungen verknüpfte.
Sitte konnte sich anpassen, Trinkaus nicht. Schon 1964 wurde Sitte in den Zentralvorstand des Verbands bildender Künstler in der DDR (VBK) gewählt. Die öffentliche Kritik der SED an der Ausrichtung seines künstlerischen Schaffens gingen bis Ende der 1960er Jahre parallel mit öffentlichen Anerkennungen und Ehrungen seiner Person weiter. Doch Sitte ging unbeirrt seinen Weg, erhielt 1964 Kunstpreis der DDR, 1965 den Vaterländischen Verdienstorden, 1969 die Berufung zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Künste in der DDR. Der augenscheinliche Anpassungsprozess vollzog sich in den Siebziger Jahren weiter. 1970 wurde Vizepräsident des VBK, 1974–88 Präsident des VBK, von 1976 bis 1990 war er sogar Mitglied der Volkskammer der DDR und von 1986 bis 1990 Mitglied des Zentralkomitees der SED. Auf diese Weise entwickelte sich Sitte in der Ära Erich Honeckers bis zum Zusammenbruch der DDR 1989 zu einem der einflussreichsten Künstler und Kulturpolitiker im Staat. Nach der Wiedervereinigung stand Sitte für die Kultur in der DDR stellvertretend für das politische System und wurde dementsprechend von Kritik und Forschung auf ein Abstellgleis gestellt. Dass sowohl Ausstellung „Sittes Welt“ und die beiden Begleitbände den meisterhaft wirkenden Maler wieder zurück ans Licht der Öffentlichkeit holt ist bemerkenswert.

Die Ausstellung wird im Jahr 2023 in adaptierter Fassung im Museum de Fundatie im niederländischen Zwolle zu sehen sein.

SITTES WELT – Willi Sitte: Die Retrospektive
03.10.2021 — 09.01.2022
Kuratoren
Thomas Bauer-Friedrich und Dr. Paul Kaiser, Dresden, unter Mitwirkung von Dr. Eckhart Gillen, Berlin, und Dr. Dorit Litt, Bonn.

Zur Ausstellung erschienen:

Sittes Welt – Willi Sitte: Die Retrospektive, ersch. in: Christian Philipsen (Hg:) Schriften für das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Band 23, E.A. Seemann Leipzig, 2021, 536 Seiten.

Thomas Bauer-Friedrich u. Paul Kaiser: Willi Sitte – Künstler und Funktionär, eine biografische Recherche, Dresden, Halle, Gera, 2021, 256 Seiten.

https://www.kunstmuseum-moritzburg.de/museum-ausstellungen/sonderausstellungen/sittes-welt/willi-sitte/

Neo Rauchs neue Bilderrätsel – Wie der Leipziger Maler seine künstlerische Mitte ausbalanciert

Daniel Thalheim

Wenn Neo Rauch aus dem Atelier auftaucht und sich dem Publikum stellt, kann ihm und seiner Kunst das höchste Maß an Aufmerksamkeit gewiss sein. „Handlauf“ heißt seine aktuelle Ausstellung in der Leipziger Galerie EIGEN+ART. Gewohnt verschlüsselte Symbolbilder mit Comic-Charakter und kleinen Schlenkern zur Pop Art werden der Öffentlichkeit ab dem kommenden Wochenende präsentiert. Balancierende Menschen, tanzende Kentauren, dreibeinige Frauen und grelle Kontraste aus Neofarben und rauchigen Hintergründen lassen die neuen Werke wieder wie apokalyptische Klarträume erscheinen. Am 24. September stellte er mit Ralph Keuning, dem Direktor des Museum de Fundatie in Zwolle, seine frisch gemalten Bilder der Öffentlichkeit vor. Neo Rauch liefert im nebst erschienenen Katalogband auch ältere Arbeiten aus den vergangenen zehn Jahren nach. 

Als der Leipziger Symbolist Anfang bis Mitte der Neunzigerjahre künstlerisch auftrat, arbeitete er mit weiten Flächen, die fast schon grafisch wirkten. Figuren nahmen nicht den Raum ein, wie die bei der LVZ-Kunstpreisausstellung gezeigten. Schon damals prognostizierten Maler- und Grafikerkollegen aus dem Umfeld der Hochschule für Grafik und Buchkunst Neo Rauchs kometenhaften Aufstieg in den Kunstolymp. Seine stets immer fahl wirkende Neonfarbigkeit in seinen Gemälden rückt ihn in die Nähe der Pop Art. Sein verschwenderisch eingesetzter Realismus wirkt so aus der Wirklichkeit entrückt und stellt sein Werk in die Nähe der Surrealisten. Seine Erzählstoffe sind verschlüsselt, die in seinen Bildern agierenden Menschen scheinen nicht wirklich zu wissen was sie tun. Doch uns rufen die gemalten „Comicstrips“ Bezüge, Vergleiche und Fragen zur Philosophie, Gnostik und Kunstgeschichte hervor.

Vielen Sujets wohnt etwas Geheimlehrerisches inne, wie bspw. im Bild „Entzündung“, ein Wort das Rauch treffend in seinen verschiedenen Konnotationen aufschlüsselt. Im Gemälde gießt ein Mann neben einer brennenden Laterne Benzin auf einen Laubhaufen; ein Spiel mit dem Feuer. Wenn der Künstler den Laternenträger als „Luciferus“ als Lichtbringer bezeichnet, brechen okkult-gnostische Bezüge auf, die etwas „crowleyistisches“ atmen. Luzifer als Lichtbringer ist außerdem eine extrem antikbezogene Gestalt aus der römisch-griechischen Mytholgie und dürfte sich auf den Planet Venus beziehen, der im Lateinischen als „lucifer“, im Griechischen „phosphoros“ bezeichnet wird und übersetzt als „Lichtbringer“ gleichzusetzen ist. Seine Energie ist im astrologischen Kontext im Zusammenhang mit neuen Handlungen zu sehen, dem geistigen und inneren Neuanfang. Fragt sich nur, warum der dürre Laubhaufen Gefahr laufen soll, zu verbrennen. Der Umgang mit Brennstoffen im Bild erreicht auch eine weitere Deutungsebene, weil ein Mann im Hintergrund mit einem Kanister spielt und ölige Schlieren in die Luft zeichnet, die Rauch als „Nordlichter“ bezeichnet. Greift Rauch den post-industriellen Abklang im Leipziger Westen auf als die Kanäle und die Wasserpfützen mit bunten Ölschleiern benetzt waren? Indizien, die zusammen gedacht ein großes Ganzes ergeben; der Prometheus, der den Menschen die Selbsterkenntnis brachte und somit auch Unheil stiftete. Denn sie wissen nicht was sie tun; für den ökologischen Trip in Richtung E-Mobilität und den Griff nach den Sternen opfern wir unsere Umwelt, unsere Natur und uns selbst mit unserer spirituellen Verbundenheit mit Pflanzen, Tieren und alles das was die Erde nur sein kann.

Wir leben in einem Bedrohungsszenario, das wir selbst verursacht haben aber als höhere Gewalt herbei deuten. Wir sehen die Konsequenzen nicht, die wir mit unserer Industrie, Landwirtschaft und auch Ökologie verursachen und laufen sehenden Auges in die Katastrophe. Fast schon erscheint die Welt heute so als würde ein Zauberlehrling ins Blinde hexen und so Chaos stiften. Sinnstiftend steht Lucifer auch für den Lehrer, wie er als Gestalt des Lichtbringers auf den Cover-Artworks der britischen Hardrockgruppe Led Zeppelin dargestellt wird. Ihr Gitarrist und Gründer Jimmy Page ist selbst bekennender Okkultist und ließ sich als begierigen Schüler darstellen. Ringsherum das Dunkel, das scheinbare Nichts, welches erst mit dem Öffnen des dritten Auges sichtbar, klar und hell wird. Bei Rauch sehen wir obskure Handlungen der gemalten Akteure, die nicht einmal das trockene Laub neben sich bemerken, das die ganze Welt entzünden könnte. Die Situation ist am Kippen, wird aber wiederum ausbalanciert. Doch die Bedrohung ist allgegenwärtig. So wippen in anderen Bildern Menschen auf Kreisel, tanzen auf wackeligen Brettern einen behäbigen Tanz, wankt ein Riese mit einer glitschigen Nixe durch die Dünen, bevölkern beschwänzte Chimären surreal anmutende Szenerien, spielen Männer Brummkreisel, massieren sich Echsen in die Landschaften ein. Gemälde in die der Maler seine Mitte gefunden hat und auch keinen Handlauf zur Sicherheit braucht. Das Geländer benötigt eher der Betrachter, der die symbolistischen Traumbilder zu entschlüsseln versucht.

In der Ausstellung sind insgesamt 16 Arbeiten zu sehen, die alle aus dem Jahr 2020 stammen, davon acht großformatige Gemälde. Der dazu erschienene Katalog bildet neben diesen noch weitere, vorher nicht publizierte Arbeiten ab.

Neo Rauch – Handlauf

Galerie Eigen+Art Leipzig

26. September bis 28. November 2020

Ausstellungseröffnung am 26. und 27. September

Ab 29. September kann die Ausstellung ohne Anmeldung aufgesucht werden.

Die Webpräsenz von Eigen+Art.

Gerhard Richters Kunst – Ein Fall für die Mülltonne?

Daniel Thalheim

 

Am 24. April 2019 sonderten die Schnellmeldungen in Zeitung und Radio die Nachricht ab, dass der Maler Gerhard Richter einen Arbeitslosen verklagte, der aus Richters Altpapiermülltonne einige Arbeiten gefischt haben will um sich finanziell unabhängig von Hartz IV zu machen. Das Amtsgericht Köln stellte nur die Besitzansprüche fest, was an sich schon absurd erscheint. Im Subtext ging es auch um die Frage, was Kunst sein darf und was weg kann. Eine fast schon moralische Frage.

 

Gerhard Richters Klage – Von Können und Gönnen

Ein Arbeitssuchender aus Köln fand in der Altpapiertonne von Gerhard Richter Zeichnungen des teuersten Künstlers Deutschlands . Die weg geworfenen Skizzen schienen für den Künstler wertlos zu sein. Aber nicht wertlos genug, um einen Arbeitslosen sein Können für ein kleines Geschäft zu gönnen. Denn der Kölner Suchende nach Arbeit und Kunst empfand, dass man mit den nicht signierten Zeichnungen ein hübsches Sümmchen verdienen könne, um so aus der H-4-Falle entfliehen zu können. Der Schätzwert der Arbeiten solle sich nach Zeitungsmeldungen auf 60.000 EUR belaufen. Das Kölner Amtsgericht ging am 24. April 2019 der Frage nach, ob diese Entwürfe verkauft werden durften, auch wenn sie schon im Müll lagen. Die Antwort des Gerichts lautete, der Arbeitslose beging „schweren Diebstahl“ und wurde daher zu einer Geldstrafe von 3.150 EUR verurteilt. In der Begründung des Gerichts hieß es, dass die Skizzen solange dem Künstler gehören würden, bis die Müllabfuhr diese Gegenstände einsackt und endgültig entsorgt. Aber warum dieser Terz, wenn der Künstler gegenüber der Polizei versichert haben will, dass Kunstwerke ohne seine Signatur auf dem Kunstmarkt nichts wert seien?

 

Das Urteil – fragwürdig und unverhältnismäßig?

Wenn Richter sich so sicher gewesen ist, warum erstattete er Anzeige gegen den Mann, der die vermeintlich unsignierten Arbeiten aus der Tonne fischte, um sie zu verkaufen? Jedermann könnte etwas auf Papiere kritzeln, Farbe darauf klecksen und behaupten, sie wären von Gerhard Richter. Kein Galerist würde ihm das abnehmen, weil die Provenienz zweifelhaft erscheint, selbst wenn Signaturen auf den Zeichnungen vorhanden wären. Jeder seriöse Galerist oder jedes Auktionshaus hätte die Angaben des Verkäufers überprüft, und wäre persönlich an den Künstler heran getreten. Keiner will mit Fälschungen und Hehlerware handeln, weil man sich dadurch selbst strafbar macht. Denn so ist die ganze Sache aufgeflogen als der arbeitssuchende Kunstfreund vier der Skizzen, worauf nach Medieninformationen Landschaften und ein Blick ins Atelier des Künstlers zu sehen sind, einem Münchner Kunsthaus zur Schätzung übergab.

Doch dem Gericht ging es anscheinend um eine ganz andere und juristisch wohl einfacher zu beantwortende Frage: das Übertragen der Besitzverhältnisse. Denn jeder, der seinen Besitz wegwirft, sei es Müll oder ein altes Möbelstück, will seinen Eigentumsanspruch abgeben. Das wird Dereliktion genannt und im § 959 BGB geregelt. Das setzt voraus, dass der Besitzer sein Eigentum freiwillig abgibt. Das Werfen von Zeichnungen in eine Altpapiertonne reiche demnach als Abgabeerklärung nicht aus. Denn aus dem Willen, sich des Mülls zu entledigen, also auch von scheinbar wertvollen Zeichnungen, ergäbe es sich nicht, dass jedermann den Müll mitnehmen dürfe. So scheint es auch, dass selbst geschaffene Kunstwerke nur aus einem Grund in den Müll wandern; der Künstler will sie nicht mit sich als Person im Einklang sehen – aus welchen Gründen auch immer, sei es aus ästhetischen Bedenken, oder weil sie einfach unvollkommen sind und dem persönlichen Anspruch nicht gerecht werden. Einzig und allein sei es Fakt, dass ein Eigentumsverhältnis nicht in der Mülltonne endet, sondern mit der Mitnahme des Mülls durch ein Müllunternehmen. Also ist die Entnahme von Müll, in diesem Fall von Kunstwerken, ein Diebstahl. Der „Dieb“ hätte also Richter fragen müssen, die Papiere mitnehmen zu dürfen. Erst wenn er durch ihn eine mündliche bzw. schriftliche Einwilligung eingeholt hätte, wären die Besitzverhältnisse geklärt worden. Oder Richter hätte die Arbeiten an sich genommen, wenn sie wirklich so hässlich und wertlos wären, und sie selbst vernichtet.

Ein großes „Aber“ schwingt im Raum; hat der Künstler nicht selbst fahrlässig gehandelt, dass seine weg geworfenen Kunstwerke so öffentlich mitnehm- und zuordenbar waren? Insofern trüge Gerhard Richter eine Mitschuld daran, dass der vermeintliche Dieb so hart bestraft wurde. Wie konnte der Dieb ableiten, dass im Müll Richters weg geworfene Zeichnungen liegen? War es der Nachbarschaft bekannt, dass Richter seine Werke achtlos in die Tonne wirft, ohne sie – wie Kontoauszüge – vorher zu schreddern? Denn aus der Kunstgeschichte weiß man, dass Künstler ihre Werke übermalten, verbrannten, zerschnitten, weil sie mit ihnen nicht mehr zufrieden waren. Warum machte Gerhard Richter das nicht? 

Sind also die Gegenstände, die Richter wegwarf, nicht als herrenlos zu werten? Insofern hätte Richter das Eigentumsrecht an seinen Zeichnungen zum Zeitpunkt seines Wegwerfens verloren und wäre an den arbeitslosen Kölner übergegangen. Also muss Richter sein Eigentumsrecht als verletzt angesehen haben als er von der Angelegenheit Wind bekommen hatte. In diesem Fall hätte er über diese Angelegenheit stehen können, dem Arbeitslosen eine schriftliche Besitzübertragung übergeben können. Aber Richter wollte nicht. Insofern auch eine moralische Frage, wie der Künstler mit seinem Werk umgeht. Zunächst Besitzanspruch abgeben, und dann doch nicht? Fehlt noch, dass er die Arbeiten signiert und zum Verkauf freigibt. Dann sollte der Gewinn zumindest an Kölner Arbeitsloseninitiativen gehen. Denn Richter war, wenn es bspw. um Obdachlose ging, immer sehr spendenfreudig.

Insofern müsste das Urteil überdacht werden. Oder warum hat sich Gerhard Richter sonst krankgemeldet und ist nicht zum Gerichtstermin erschienen? Schlechtes Gewissen?

Zwischen Zweifel und Distanz – Warum die Farbigkeit in Arno Rinks Gemälden eine große Rolle spielt

Von Daniel Thalheim

Aktuell ist in Leipzig eine große Retrospektive zum Leipziger Künstler Arno Rink zu sehen. Der ehemalige Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst vertrat eine streitbare Position innerhalb des Leipziger Kunstkörpers. Er sagte von seiner Kunst, dass sie Ausdruck seiner inneren Zerrissenheit und Zweifel sei. Neben dem Unfertigen, neben der Andeutung, ist es vor allem die Farbigkeit seiner Gemälde, die große Schatten wirft. Wer genauer auf die Farbpalette schaut, stellt die Parallelen zu seinem Schüler Neo Rauch, und zu KünstlerInnen wie Kathrin Heichel und Titus Schade aber auch Querverbindungen zum deutschen Biedermeier und des Manierismus fest.

Auf der Suche nach der Farbigkeit im Werk von Arno Rink

Das erste, an das ich mich erinnern kann und mit der Malerei in der DDR in Verbindung tritt, war ein Besuch im Georgi Dimitroff Museum irgendwann Anfang der Achtzigerjahre. Damals war das Museum der Bildenden Künste fest im Griff des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates. Wir waren Schüler der Polytechnischen Oberschule Taras Schewtschenko und wurden in einen kleinen Saal geführt. Er wurde, so wurde uns gesagt, vorrangig für Vorlesungen für die Studenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst sowie dem Institut für Kunstgeschichte genutzt. Uns kam er wie ein Kinosaal vor. Die plüschigen Sessel, der Vorhang und die gedämpfte Stimmung des Raums hinterließen in mir den Eindruck, dass Kunst etwas Erhabenes sein musste. Bislang kannte ich nur die manieristischen und barocken Arbeiten von Raffael, Leonardo, Vermeer, Rubens und Rembrandt aus dem Kunstbuchbestand meiner Eltern und meiner Großmutter. Der Vorhang wurde aufgezogen. Wir blickten auf eine gemalte Tristesse in verblichenem Gelb, abgeschwächtem und schmutzigem Grün und Abstufungen von Ocker und Braun. Diese Farben waren uns wohlvertraut. Wir blickten tagtäglich auf die Resultate des abgewrackten Industriezeitalters. Leipzig selbst war ein Wrack, war in Grau, Braun, gelb- und Ockertönen getaucht – so erschien es mir an den schlimmsten Regentagen. Nahe dem Friedenspark und dem Hospitaltor lebend, bemerkte ich natürlich auch die Farbtupfer der inzwischen abgerissenen Kleingartenanlage mit seinen roten Kirschen, die über die sonnenbefleckten Zäune in den schmalen Weg hinter den Mietskasernen an der Leninstraße hingen, dem satten Grün des „Friedensparkes“ im Frühjahr und im Sommer, an die hellblaue Joppe, die ich als Kind trug und meinen Malkasten, dessen Töpfe nur reine Farben besaß. Das uns im Dimitroff-Museum gezeigte Bild, das mehrere – wahrscheinlich durch gemalten Sonnenlicht – angestrahlte Giebelfronten zeigte, Schornsteine und eine Wolkenmasse, die wie ein abziehendes Gewitter aussah, bedrückte mich. 

Der Lichtblick, der nach dem Unwetter in Öl getaucht wurde, verschwamm in meinem Gehirn zu einer öligen Pfütze, die es in Leipzig zuhauf gab. An dem Anblick war nichts erhabenes. Uns wurden verblichen gelbliche Bilder von Ulrich Hachulla und Sighard Gille gezeigt. Für mich war lange nicht erklärbar, warum die Farbakkorde so abgeschwächt waren. Hatte es mit dem generellen Mangel an Farbigkeit in der DDR zu tun, wo Gelb und Braun mit Akzenten von Grün zum Alltag gehörten und selbst das so grellbunte Kinderspielzeug grau erschien? Oder konnten sich die Künstler keine anderen Farben leisten als Gelb und Braun? 

Dabei ist das Bild „Beatabend“ von Hachulla ein körperliches Manifest aus reger und fein akzentuierter Farbigkeit und Abstraktion, wenn auch dieses Bild eine Gruppen junger Menschen zeigt, die einer Band zuhören und sich vor der Bühne gemütlich machen. Oder die „Demonstrationen“ von Volker Stelzmann: Wimmelbilder von Menschen in farbigen Grau-Gelb-Abstufungen mit zarten Farbpunkten. Lag die feine Akzentuierung von Mischfarben aber wirklich an der Beschäftigung mit der Farbenlehre, oder war die zurückhaltende Farbigkeit nur ein Ergebnis der Baryt-Anreicherung in den industriell hergestellten Farben, die es in der DDR zu kaufen gab?

Arno Rinks Bilder heben sich in ihrer Farbwahl von den Werken seiner Zeitgenossen ab. Sein Spiel mit Hell-Dunkel-Kontrasten, wenigen Signalfarben und die Zuwendung zum Blau des Romantikers, machen die Abwendung von sozialistisch-gesellschaftlichen Sujets deutlich. Er selbst steht größtenteils im Mittelpunkt seines Schaffens. Ihm ging es in seinen Bildern um die Form, und das, was im Zusammenspiel mit der Farbigkeit zum Ausdruck gemacht werden kann. Beispiele für seinen Ansatz gibt es viele. Ein Blick auf sein Frühwerk könnte seine Einflüsse offenlegen. Seine Ölskizze „Die Puppe“ erinnert an einen modernen Hieronymus Bosch, der nach seinem spannenden Hauptwerk Pilze gekaut, viele Blake-, und Dali-Werke sowie Max-Ernst-Gemälde neu interpretiert  hat, sie skizzenhaft als verschattete Trips auf Kartons und Leinwände warf. 

Die Arbeiter auf dem Rink-Bild sind zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft, oder erscheinen wie Zwerge, die die übergroße Modepuppe anbeten, die wie ein mythisches Mischwesen aus ölgewordenem Männertraum und aus Mechanik gedrechselter Ingenieurskunst erscheint. Ob die Berliner Rockband Rammstein sich was von dieser Ikonographie etwas abgeschaut hat? Das Gemälde hinterlässt den Eindruck, trotz seiner gemalten Perfektion, bedrohlich und kalt zu sein. Die kleinen, um sie herum drapierten, Figuren wenden sich vom Betrachter ab und scheinen aus dem Bild zu verschwinden. Angedeutete, ruinöse Architektur, ein glühender Himmel verstärken den Eindruck, hier kommt ein pinkfarbener Satan aus den Fantasien der ehemaligen „FF Dabei“-Redaktion auf die Erde hernieder und lässt sich feiern. Hinzu kommt die , vom Betrachter aus gesehene, erhobene linke Hand. Die Modepuppe weist so eine Parallele mit mittelalterlichen Baphometdarstellungen auf. „Die Puppe“ ist, so gesehen, ölgewordene Apokalypse. Das Verwaschene, Verkratzte und auch Entfärbte setzte sich kontrastreich in Rinks Schaffen fort. Klare, reine Farben sucht man – bis auf wenige Ausnahmen – auch hier vergebens.

Warum die Leipziger Schule eine Fortsetzung der Romantik ist

Um zu verstehen, wie die DDR-Maler aus Leipzig tickten – denn auch Tübke, Mattheuer & Co. verstanden es, aus einer eng gefassten Palette Großes zu zaubern – muss man einen Blick auf Johann Wolfgang von Goethe und Philipp Otto Runge werfen, oder besser gesagt: ihre Farblehren. Die Steigerung aus dem Klaren ins Trübe vereint beide „Farbphilosophen“. Was in bestimmten Abschnitten zutage tritt, ist die Beschäftigung mit den sogenannten dissonanten Akkorden. Wir kennen dies aus der Musik, wenn etwas schief und „daneben“ klingt. 

In der Farblehre Runges finden wir aber einen Zwei-, Drei- bzw. Mehrklang aus abgeschwächten Farben, die als Akkorde nebeneinander gestellt, eine bestimmte Stimmung erzeugen. Die Wirkung von Farbigkeiten auf das Gemüt tritt hier auch zutage. Beinahe können wir von der abseitigen Farbenlehre von Jazz in Malerei reden. Denn was in der Musik vielleicht schmerzhaft klingen würde, könnte in der Malerei eine (Dis-)Harmoniefolge ergeben, die den Betrachter fragen lässt, womit der Künstler nicht im Einklang steht: mit sich selbst, mit seiner Umgebung, mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen? 

Was bei William Turner und Impressionisten wie Claude Monet mit ihrer Freilufttechnik als natürlich und lichtecht nachzuahmen versuchten und rein ästhetische Grundwerte besitzt, muss bei den Leipziger Malern in der DDR-Zeit und auch partiell in ihrer Nachfolge durch u.a. Neo Rauch in einem anderen Licht betrachtet werden. 

Runges Farbenkugel trägt, ausgehend von den drei Primärfarben, die reinen Farben entlang des Äquators, woraus sich in Richtung Pole die Mischfarben ergeben, bis hin zum Schwarz bzw. Weiß. Ihm ging es mit seiner Farbkugel um die Veranschaulichung von Harmonien bzw. Disharmonien, die durch die Kontrastwirkung zueinander gestellter Farben erzielt werden. Gleichzeitig wohnt – unabhängig von Runges Farbtheorie und angewandter Praxis – eine Symbolik inne. 

Frédéric Portal (1804-1876) unternahm den Versuch, die Farbsymbolik zu systematisieren. Der französische Autor stufte Farben u.a. nach Licht und Dunkelheit (Weiß und Schwarz), Liebe und Willen (Rot und Weiß), Vernunft und Intelligenz (Gelb und Blau) ein. Portal fächerte die Farbkreisspirale soweit auf, dass die philosophischen Grundprinzipien seiner Farbordnung, dass die verschiedenen Eigenschaften und Leidenschaften, die nach seinen empirischen Studien den Farben innewohnen in verschiedenen Verhältnissen abgebildet sind. 

So ähnlich sehen wir es in den Werken der „Leipziger Schule“, dessen berühmtester Vertreter nunmehr ein gewisser Neo Rauch ist, der 2018 zusammen mit Rosa Loy das Bühnenbild für das Bayreuther Bühnenwerk „Lohengrin“ des musikalischen Spätromantikers Richard Wagner gestaltete und in Interviews weitläufig von seiner Begeisterung über die Befreiungskriege erzählt, welche ikonographischen Prinzipien er in seinen Bildern anwendet und so als spätgeborener Romantiker erscheint. Seine gedimmte Farbskala ist düster. Im Zusammenspiel mit den Sujets schafft er alptraumhafte Szenen, puzzlehaft zusammengesetzt aus Versatzstücken der Geschichte, DDR-Schulbuch-Illustrationen und Erinnerungen. Er setzt sich so auch von seinem Lehrer Arno Rink ab, der weitaus klarere Kontraste in seinen Bildern schuf. Setzt man seine und Neo Rauchs Arbeiten in die Folge von Philipp Otto Runge, Caspar David Friedrich und Arnold Böcklin, jedoch durch die Linse eines Max Ernst betrachtet, erscheinen sie von der blauen Blume der Romantik geküsst worden zu sein. Ein Schlüssel zum Werk von Arno Rink scheint also auch die Farbskala zu sein. 

 

Die Ausstellung „Ich male!“ im MdbK ist noch bis zum 16. September 2018 zu sehen.

 

Begleitend zur Ausstellung erschien auch ein Katalog mit den wichtigsten Werken seines Schaffens und Texten.

Zurück zum Beton – Warum der Baustoff noch immer in Mode ist

Von Daniel Thalheim

Teil 1 – Betonbauwerke – weitaus mehr als „nur“ DDR und Brutalismus

 

Oft wird Beton mit „Platte“ gleichgesetzt. Menschen, die in der DDR aufwuchsen und lebten, wussten „ihre“ Platte zu schätzen und zu hassen. Was in den Siebzigerjahren im Wohnbau des ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaates einsetzte war verschiedenen Faktoren unterworfen. Einerseits knüpfte die SED-Regierung an den Arbeiterheimstätten-Bauprogrammen der Weimarer Republik und Nazi-Deutschland an. Andererseits verfielen die Städte in der DDR zusehends. Die „Platte“ war so gesehen Beruhigungspille und Arbeitsbeschaffungsprogramm in einem. Der Bau von Plattenbauwohnungen galt als das Planerfüllungsprogramm überhaupt. Nur so konnte die SED deutlich sichtbar für die „Errungenschaften des sozialistischen Staates“ werben. Platte war Propaganda.

Erst als in der Nachwendezeit klar wurde, dass die Gründerzeithäuser im sanierten Zustand weitaus komfortabler zu bewohnen und nicht so beengt sind wie die Plattenbauwohnungen, wurde die Platte mit der SED gleichgesetzt und damit auch mit allen schlechten Umständen, die das Leben in der DDR mit sich brachte. Mit den in den Neunzigerjahren einsetzenden Schrumpfungsprozessen der Städte und Gemeinden im Osten Deutschlands, fielen auch zahlreiche Plattenbauwerke aus der Kombinatsproduktion den Abrissbaggern zum Opfer. Im Zeichen der nun beginnenden Wachstumsprozesse in den Ballungsräumen, bspw. Halle-Leipzig, erinnern Planer und Architekten sich wieder an die gute, alte Platte. Die DDR-Wohnanlagen werden derzeit im großen Stil umgebaut und saniert. Mit ihren neuen farbigen Wärmedämmungskleidern verschwindet aber auch der raue Charme, der die Platte einst so charakterisierte. Die Ansichten der einst so stadtbildprägenden Modulbauweise sind bald nur noch auf alten Fotos sichtbar.

Aber Betonbauwerke bedeuten mehr als nur „DDR“ und „Brutalismus“. Schauen wir in die Geschichte der Entwicklung des Betonbauwerks, erblicken wir ein Panoptikum aus kühnen Kuppeln und geschwungenen Körpern. Betonbauwerke können mehr sein als nur modulare Körper in LEGO-Bauweise. Das sehen wir allein schon an der um 126 v. Chr. gebauten Kuppel des Pantheons in Rom mit einem Durchmesser von knapp über 43 Metern in Leichtbetonbauweise. Schon die alten Ägypter benutzten schon eine Verbindung aus Kalk und Gipsmörtel. Ihre monumentalen Tempel und Statuen sprechen von diesem Innovationsschub in der Antike. Die Römer verwendeten Sand, Vulkanasche und gelöschten Kalk. Im Fall des Pantheons kam noch leichter Naturstein hinzu. Bereits der römisch-antike Philosoph Vitruv behandelte das Thema Beton in seinen „Zehn Büchern über Architektur“. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Werkstoff wieder populär, auch für den Wohnbau. Die Franzosen machten es vor.

Tadao Ando, Roberto Garza Sada Center for Arts, Architecture and Design (Copyright: © Shigeo Ogawa / TASCHEN / Presse 2014-2017)
Tadao Ando, Roberto Garza Sada Center for Arts, Architecture and Design (Copyright: © Shigeo Ogawa / TASCHEN / Presse 2014-2017)

Das Buch 100 Contemporary Concrete Buildings von Philip Jodidio

Ein großer grauer Pappschuber. Darin eingelegt zwei Bände. Sie fassen 100 Betonbauwerke zusammen, die nach Auffassung des Architekturexperten und Publizisten Philip Jodidio Maßstäbe für das Bauen mit Beton sein sollen. Philip Jodidio, auch bekannt durch seine zahlreichen Veröffentlichungen zur zeitgenössischen Architektur, umreißt skizzenhaft die Entwicklung des Betonbauens im 19. und 20. Jahrhundert mit einigen wenigen Referenzwerken, konzentriert sich verstärkt auf Bauwerke der Postmoderne – also Gebäude, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Was fehlt ist der Beton im Wohnungsbau in den Staaten des Warschauer Paktes, der derzeit eine Renaissance erfährt und von Architekten neu entdeckt wird.

100 Zeitgenössische Bauten aus Beton Philip Jodidio Hardcover, 2 Bände im Schuber, 24 x 30,5 cm, 730 Seiten TASCHEN € 39,99
100 Zeitgenössische Bauten aus Beton Philip Jodidio Hardcover, 2 Bände im Schuber, 24 x 30,5 cm, 730 Seiten TASCHEN € 39,99

Die beiden Bände geben atemberaubende Einblicke, wie kühn verschiedene Architekten mit dem Werkstoff umgehen. Sie flüstern aber jedoch auch viele Details und Hintergrundinformationen, die eher viel lauter in Fachzeitschriften zu finden sind. Vielmehr möchte der Papierbrocken mit dem Aussehen eines Betonklotzes eine Lanze für das Material brechen, das viele Menschen als kalt und eintönig ansehen würden. Um die Vorteile gegenüber dem „flüssigen Stein“ zu widerlegen und auch wegen seiner Übersichtlichkeit ist dieses Buch eine Empfehlung wert. Es bietet aber zugleich Anregungen, sich weitgehender mit der Materie auseinanderzusetzen.

 

 

100 Concrete Buildings

Philip Jodidio

Hardcover, 14 x 19,5 cm, 730 Seiten

 

 

Lesen Sie im 2. Teil mehr zu den Betonpionieren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Zwischen Anpassung und Selbstverwirklichung – Wie in der DDR versucht wurde, Architekten zu kollektivieren

Von Daniel Thalheim

Tobias Zervosen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU München. Architektur und Architekturtheorie sind seine Forschungsschwerpunkte. In seiner 2017 erschienenen Publikation „Architekten in der DDR – Realität und Selbstverständnis einer Profession“ wirft er einen Brennpunkt in die Archive und bringt so Sachverhalte ans Licht, welches die starke Reibung zwischen Architekten und SED-Politikern beleuchtet. Es geht um die spannende Frage, wie Architektur und der Berufsstand des Architekten von den Regierenden in der DDR aufgefasst wurde.

Dissertationen sollen neue Kenntnisstände zu einem Thema bewerten und analysieren. Das wird sofort deutlich, wenn Tobias Zervosen seine Doktorarbeit von den Veröffentlichungen abgrenzt, die sich mit der Frage, wie Heimatschutz in der Architektur der frühen DDR Eingang fand, beschäftigen. Ihm geht es in 470 Seiten um eine andere Frage: Wie kamen Architekten mit den DDR-Machthabern und ihrer Auffassung von Arbeit, Architektur und Kunst klar?

Tobias Zervosen Architekten in der DDR Realität und Selbstverständnis einer Profession (Bild: transkript Verlag 2017)
Tobias Zervosen Architekten in der DDR Realität und Selbstverständnis einer Profession (Bild: transkript Verlag 2017)

An mehreren Beispielen, angefangen von der Zeit in der Sowjetischen Besatzungszone und den Vorgaben bzw. Befehlen der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) kurz nach dem Zweiten Weltkrieg über die Frühphase der DDR und dem etappenweise vollzogenen Kollektivierungsprozess der Architekten sowie den sich stärker durchsetzenden Normierungen und Planvorhaben im Sinne einer in der DDR fortgesetzten Kriegswirtschaftspolitik, wird die Erosion des individuellen Architekten, der mit dem Selbstverständnis eines Künstlers arbeitet, deutlich. Neben Anpassungszwängen gab es eben auch Anpassungsschwierigkeiten. Der Staat war Hauptauftraggeber für Bauvorhaben jedweder Art: Wohnanlagen, öffentliche Gebäude, stadt- und verkehrsplanerische Projekte. Der SED-Staat, bzw. seine Regierung und Regierungsorgane, war auch das Hauptproblem für Architekten, die bspw. noch vorm Weltkrieg selbstständig arbeiteten, wenn es um das Selbstverständnis ging. Individuelle Positionen wurden nicht, und wenn nur mit großem Zögern, zugelassen. Das führte soweit, dass noch 1990 darüber nachgedacht wurde, wie Architektur ohne Architekten zu verwirklichen sei. Planspiele, die abrupt ihr Ende fanden und erst heute im Zusammenspiel mit der wachsenden Digitalisierung und freien Verfügbarkeit von Programmsoftware wieder diskutiert werden. Dennoch prägten Architekten den Verlauf der DDR-Architekturgeschichte mit, nahmen Einfluss auf die Bauausführungen. Ganz so ent-individualisiert war die Architekturauffassung im Arbeiter- und Bauernstaat dann doch nicht gewesen. Der Autor selbst sagt, dass die Architektur der DDR bislang vor allem als politisch gesteuert und bestimmt verstanden worden ist. „Handeln und Einfluss der Architekten selbst, ihr berufliches Selbstverständnis und ihr Umgang mit politischen Leitlinien, aber auch ihre Vorstellungen und Visionen von einem veränderten Planen und Bauen wurden jedoch kaum wahrgenommen. Ohne die Bedeutung des Politischen zu schmälern, zeichnet das Buch erstmals ein umfassendes Bild von der vielfältigen Arbeit der Architekten und Stadtplaner.“

Dennoch muss aber auch hinzugefügt werden, dass Architekten bis Ende der Achtzigerjahre in Bau- und Planungskollektive zusammengeschlossen wurden, um Bauprojekte zu realisieren. Gerade am Beispiel der ehemaligen Propsteikirche St. Trinitatis in Leipzig wird klar, dass Architektur ihr individuelles Gesicht verlieren sollte. Beton und Formvorgaben ließen das Bauen zum Umriss einer funktionslosen und austauschbaren Ansinnen werden. Aber ohne ihre geschickten Antworten und ihre behutsame Einflussnahme auf politische Vorgaben, ihren kreativen Eigensinn und ihr Eintreten für fachliche Belange ließe sich die DDR-Baugeschichte aus Sicht des Autors in all ihren Facetten und Brüchen nicht verstehen. Insofern ist das Buch von Tobias Zervosen als Standardwerk zu sehen, wer sich mit der Architekturgeschichte der DDR auseinandersetzen will.

Tobias Zervosen

Architekten in der DDR

Realität und Selbstverständnis einer Profession

10/2016, 474 Seiten, kart., zahlr. Abb.

ISBN 978-3-8376-3390-0

Weiterführende Links zum Thema:

Die Katholische Propsteikirche St. Trinitatis in Leipzig

Alte Propsteikirche in Leipzig – Vom bevorstehenden Abriss eines Kulturdenkmals der DDR

Deutschlands Picasso? – Welche spannenden Rückblicke auf Gerhard Richters Werk es gibt

Derzeit im Museum Folkwang, Museum Ludwig, Kunstmuseum Bonn, Staatliche Kunstsammlungen Dresden und künftig in der Nationalgalerie Prag und im Museum Barberini zu sehen: Rückblicke auf Gerhard Richters Werkspanne von 1965 bis 2016.

Gerhard Richter, 5 Türen (I), 1976, Öl auf Leinwand, 5tlg, je Bild: 2ß5 x 100 cm, Museum Ludwig Köln, @Gerhard Richter, Repro: Rheinisches Bildarchiv Köln.
Gerhard Richter, 5 Türen (I), 1976, Öl auf Leinwand, 5tlg, je Bild: 2ß5 x 100 cm, Museum Ludwig Köln, @Gerhard Richter, Repro: Rheinisches Bildarchiv Köln.

Nachdem er in den Sechzigerjahren von der DDR in die BRD auswanderte nannte er seine Arbeit – entgegen dem sozialistischen Weg in der Kunst – nun dem „kapitalistischen“ Realismus verpflichtet. Inzwischen hat Gerhard Richter sich von allen stilbildenden Korsetts befreit. Weil in diesem Jahr der Maler aus Dresden 85 Jahre alt wurde, blicken verschiedene Museen noch bis Ende 2018 auf sein Schaffen zurück.

Von Daniel Thalheim

Von der DDR in die BRD

Der Mauerbau in Ost-Berlin muss einer der Auslöser gewesen, dass Gerhard Richter in die BRD ausreiste. Die Bevormundungen seitens des SED-Staates, gerade im Hinblick auf die Durchsetzung des sogenannten Bitterfelder Weges, um die Kluft zwischen Werktätigen und Künstlern zu vermindern, indem man versuchte, die künstlerische Arbeit, den ästhetischen Bedürfnissen der Arbeiterklasse anzupassen, trugen womöglich auch ihren Teil dazu bei, dass Gerhard Richter in den Westen floh.
Im Zusammenhang mit seiner Flucht steht wahrscheinlich sein früher, im 2015 erschienenen Werkverzeichnis gänzlich ausgeschlossener, künstlerischer Beginn in Westdeutschland der Sechzigerjahre, als er zunächst an der Kunstakademie Düsseldorf zusammen mit u.a. dem DDR-Geflüchteten Sigmar Polke, HA Schult und Kuno Gonschior studierte, dann als als Kunstlehrer arbeitete, Gastdozent wurde und dann an der Düsseldorfer Akademie die Professur für Malerei übernahm. Das Kunstmuseum Bonn thematisiert seit Mitte Juni 2017 die Startphase des Künstlers, der – wie kein anderer – gegenständliche und ungegenständliche Malerei so strikt voneinander trennt, wie kein anderer. Was Realität und was Realität nicht sind, steht im Mittelpunkt seines Schaffens, das wohl am deutlichsten in seinem – bislang kaum berücksichtigten – Frühwerk zum Tragen kommt. Präsentiert werden etwa 25 Schlüsselwerke, als sich Richter gerade aus der DDR in den Westen abgesetzt hatte. Dabei will die Schau sich unter dem Titel „Über Malen – Frühe Bilder“ auf Richters Darstellungen von geöffneten Türen, Vorhängen und Fenstern fokussieren. Es heißt: „Zu sehen gibt es dahinter aber nichts: Richter glaubt nämlich nicht, dass Bilder die Wirklichkeit verlässlich abbilden können.“
Der Rückschauen nicht genug: nach der Präsentation in Bonn wird die Ausstellung im S.M.A.K. in Gent (21.Oktober – 18. Februar 2018), anschließend im Museum Wiesbaden (23. März – 24. Juni 2018) zu sehen sein.

Gerhard Richter, Portrait Dieter Kreutz, 1971, Öl auf Leinwand, 150 x 125 cm, @Gerhard Richter, Kunstmuseum Bonn.
Gerhard Richter, Portrait Dieter Kreutz, 1971, Öl auf Leinwand, 150 x 125 cm, @Gerhard Richter, Kunstmuseum Bonn.

Serielles Arbeiten, wie vom Fließband

Die Bildserie ist nicht etwa eine Erfindung von Gerhard Richter, oder von Andy Warhol. Bildserien entstanden v.a. im Aufkommen des Impressionismus. Vor allem Claude Monets Spätwerk ist von dem Schaffen von Bildserien bestimmt. Seine Seerosen sind wahrscheinlich bekannteste Beispiele. Andere Impressionisten haben ebenfalls ein und dasselbe Motiv in unterschiedlichen Stimmungen wiedergegeben. Vor ihnen haben Malerwerkstätten von Lucas Cranach d.Ä. und Rembrandt ebenfalls seriell gearbeitet. Gerhard Richters Ansinnen war mit dem Verfolgen seiner „Multiples“ das Erreichen eines größeren Publikums. Das sagt das Museum Folkwang in Essen zu seiner aktuell noch bis zum 30. Juli laufenden Ausstellungen „Gerhard Richter. Die Editionen“. Die Institution trug über 170 Arbeiten zusammen und vereint zum ersten Mal alle künstlerischen Gebiete, in denen der Maler tätig war: Grafik, Malerei, übermalte Fotos, Künstlerbücher. „Richters Umgang mit verschiedenen Drucktechniken und Stilmitteln der Malerei ist von einer großen Offenheit und Experimentierfreude gekennzeichnet. Immer wieder hinterfragt er dabei auch sein Selbstverständnis als Künstler“, so das Museum Folkwang über das Wirken des Künstlers, der aufgrund seiner Experimentierfreude und Finden neuer Ausdrucksformen mitunter bereits als „Picasso Deutschlands“ bezeichnet wird. Er selbst sagt: „Manchmal denke ich, ich sollte mich nicht Maler nennen, sondern Bildermacher. Ich bin mehr an Bildern interessiert als an Malerei.“

Erneuerer bis ins hohe Alter

Aktuell ist in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden eine Ausstellung zu sehen, die sich mit Gerhard Richters spätem Schaffen auseinandersetzt. Alle 31 Werke wurden vom Künstler 2015 bis 2016 geschaffen. Ihre Leuchtkraft, Dynamik und Komposition stellen komplexe Arbeitsvorgänge dar, die an Arbeitsweisen erinnern, welche die Informel-Künstler des späten 20. Jahrhunderts auf Basis von u.a. vom Surrealisten Max Ernst eingeführten Techniken, vervollkommneten. Bis ins hohe Alter zeigt Richter sich als aufgeschlossener Reisender, der Brücken zu neuen Horizonten baut. Seine Skepsis an der Abbildungsfähigkeit der Realität aufgrund individueller Wahrnehmungsfähigkeiten hält aber weiterhin an. Auch sein in den neuen Arbeiten veranschaulichtes Zusammenspiel von Materialbeschaffenheit und Farbigkeit weitab von den gängigen Farbkreisspielereien zeigt seine Experimentierfreude. Das macht ihn zu einem Impulsgeber für jüngere Malergenerationen, wie u.a. Rachel T. Harris aus den USA.

Gerhard Richter, Zwei Fiat, 1964_67, Öl auf Leinwand, 150 x 125 cm @Gerhard Richter, Kunstmuseum Bonn.
Gerhard Richter, Zwei Fiat, 1964_67, Öl auf Leinwand, 150 x 125 cm @Gerhard Richter, Kunstmuseum Bonn.

Deutsch-deutsche Familiengeschichte

Sein malerisches und grafisches Schaffen aus der DDR-Zeit ist so gut wie nicht mehr vorhanden bzw. nicht erfasst. Seine Retrospektive kann sich daher derzeitig nur auf sein künstlerisches Werk von 1961 bis heute erstrecken. So auch in der Nationalgalerie in Prag. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Botschaft und dem Goethe-Institut werden noch bis zum 3. September 2017 bildnerische Arbeiten des Mannes gezeigt, der derzeit, wie kein anderer, als Präsentator einer offenen und weltmännischen Kunst angesehen wird. Was sein Werk so einzigartig macht ist die Tatsache, dass er die deutsche Geschichte aus drei Perspektiven reflektieren kann: deutsch-deutsch und familiär. In einer Chronologie von 60 Jahren wird dieser rote Faden der eigenen Geschichtsschreibung gesponnen. Vielleicht wird dieser Faden noch weitere Jahre weiter laufen. Wie es scheint, ist Gerhard Richter noch lange nicht am Ende seiner Schaffenskraft angelangt. Denn einen Ausblick, neben der Wiesbadener Ausstellung, auf 2018 gibt es bereits schon: das Museum Barberini zeigt, ausgehend von einem eigenen Bild, in einem Jahr bis Anfang Oktober eine Zusammenstellung aus verschiedenen Leihgaben von verschiedenen musealen und privaten Sammlungen – zu erwarten ist eine Retrospektive der Superlative. Womöglich werden auch bis dato noch nicht gezeigte Frühwerke des Künstlers der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit dem Archiv der Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden.

Literatur:

Yilmaz Dziewior u. Rita Kersting, Gerhard Richter. Neue Bilder, Dresden-Köln 2017.

Gerhard Richter, Gerhard Richter. Die Editionen, 2017.

Christoph Schreier, Gerhard Richter: Über Malen – Frühe Bilder, Bonn 2017.

Dieter Schwarz u. H.D. Buchloh, Gerhard Richter. Abstrakte Bilder und Zeichnungen aus der Marian Goodman Gallery N.Y., New York 2016.

Hubertus Butin u. Stefan Gronert, Gerhard Richter – Editionen 1965 – 2013: Catalogue Raionné, 2014.

Guido Meincke, Gerhard Richter. Zeitgenossenschaft, 2013.

Camille Morineau u. Mark Godfrey, Gerhard Richter: Panorama, 2012.

Oskar Bätschmann u. Hubertus Butin, Gerhard Richter. Landschaften,2011.

Dietmar Elger, Gerhard Richter. Maler, 2008.

Markus Heinzelmann u. Siri Hustvedt, Gerhard Richter. Übermalte Fotografien, 2008.

Jürgen Schreiber, Ein Maler aus Deutschland: Gerhard Richter. Das Drama einer Familie, 2007.

Weblinks:

Museum Folkwang mit einer Gerhard-Richter-Ausstellung

Zur Ausstellung im Museum Ludwig in Köln

Die Nationalgalerie in Prag zur Gerhard-Richter-Retrospektive

Die SKD mit ihrer Gerhard-Richter-Schau

Gerhard Richter im Kunstmuseum Bonn

Zur Retrospektive im Museum Barberini

Glück der Neuorientierung – Hans Aichinger über Zweifel und Brüche im Leben

Hans Aichinger »untitled« oil on canvas 90 x 130 cm, 2014 (courtesy own by malerzgalerie Leipzig 2016)
Hans Aichinger »untitled« oil on canvas 90 x 130 cm, 2014 (courtesy by maerzgalerie Leipzig 2016)

Hans Aichinger gehört neben Neo Rauch zu den wenigen Leipziger Künstlern der Wendegeneration, die heute von ihrer Kunst leben können. In seinem großen und abgedunkelten Atelier saß im Herbst 2009 der Künstler und steckte sich eine blaue Gauloise an. „Künstlerzigarette“, sagte der ergraute Aichinger mit rauer Stimme.

„Von Kunst zu leben, davon habe ich schon immer geträumt“, blickte der 1959 in Leipzig geborene Maler auf seine Anfangstage zurück. Von 1982 bis 1986 studierte er bei Bernhard Heisig Malerei an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Sein Atelier war zum Zeitpunkt des Interviews im Jahr 2009 auf dem Gelände der Alten Baumwollspinnerei untergebracht. An den Wänden waren seine Gemälde angelehnt, auf dem Tisch lagen große und dicke Kunstbände von italienischen Malern wie Caravaggio & Co. Hans Aichinger bewunderte gerade die Hell-Dunkel-Malerei des Italieners und seiner Anhänger, die von Kunsthistorikern als Caravaggionisten bezeichnet werden. Doch Hans Aichinger brauchte nicht so tief in die Historie der Kunst abtauchen, um seine Beweggründe, Kunst zu machen, zu beschreiben. Wenngleich seine Malerei sich stark an der von Caravaggio orientiert, so lädt er seine Sujets mit gegenwartsbezogenen Kontexten auf, die auf dem ersten Blick nicht unbedingt etwas mit der Suche nach und Erkenntnis von Gott zu tun haben können. „Eigentlich ging mein Traum in Erfüllung, als ich von der HGB aufgenommen wurde. 1987 machte ich mein Diplom und hatte das Glück, auch gleich danach als Künstler von meinen Arbeiten leben zu können. Damals war der Einstieg einfacher, weil man Aufträge bekam. Es gab sozusagen eine Garantie zum Geld verdienen mit der Kunst. Das ist heute nicht mehr der Fall.“

Hans Aichinger beschrieb den Zustand, in dem sich viele Vertreter seiner Zunft in der damaligen DDR wiederfanden. Auch sein Malerkollege Thomas Gatzemeier lebte von Auftragsarbeiten. Doch 1986 verließ er das Land, das einen Kritiker wie ihn nicht vertragen wollte. Hans Aichinger blieb.

Hans Aichinger »The hole« oil on canvas 100 x 80 cm, 2014 (courtesy maerzgalerie 2016)
Hans Aichinger »The hole« oil on canvas 100 x 80 cm, 2014 (courtesy maerzgalerie 2016)

Der inzwischen ü-fünfzigjährige Künstler zündete sich eine neue Zigarette an. Diese Sorte rauchte er schon, seitdem er in den Achtzigerjahren mit Künstlerkollegen aus der Bonner Republik in Kontakt stand. Noch lange vor dem Boom hat er sein Atelier 1997 auf dem Spinnereigelände eingerichtet. Eigentlich sollte das jetzige Atelier ein Wohnatelier werden, sinniert er, aber dann lernte er seine Frau kennen, hat nun Kinder. In so einer Umgebung mag niemand Kinder aufwachsen sehen. So nimmt Hans Aichinger zwanzig Fahrtminuten mit dem Auto in Kauf, samt Stullen und eine Thermoskanne voller Kaffee. Wenn dieser mal nicht reiche, dann holt er sich welchen aus dem benachbarten Café Mule. „Malerei und Privates sollte man schon voneinander trennen, wenn man professionell arbeiten möchte. Man hat sonst immer alles vor Augen, die Couch, TV oder Küche. Entweder ist man nur am Malen und kann nicht abschalten, oder man ist blockiert und schafft gar nichts.“

Nach der Wende und in der Zeit der Wiedervereinigung orientierte auch Hans Aichinger, wie viele seiner Malerkollegen neu. Vom Realismus wurde in der Bundesrepublik nicht viel gehalten. Es galten entweder die großen Fotorealisten aus den USA bzw. der nach Los Angeles ausgewanderte Künstler … Helnwein, Post-Expressionisten wie Jörg Immendorf, die DDR-Exilanten und das Umfeld der Düsseldorfer Kunsthochschule, die Maler der Wiener Wiener Schule und die Vertreter der Informel Art, bei denen Emil Schumacher als einer der letzten Protagonisten galt. Zwischen Kitsch und Ramsch der Kaufhaus-Kunst, der bundesrepublikanischen Avantgarde wurde die Malerei der DDR schnell auf die Arbeiten eines Willi Sitte eingedickt, gleichgemacht und verdammt, vergessend darüber, dass Maler wie Arno Rink, Bernhard Heisig und Werner Tübke auch in der BRD einen guten Bekanntheitsgrad besaßen. Nach 1989 wurde v.a. in Deutschland-Ost vieles von dem Kulturgut verbannt und vergessen, was später als sogenannte Nostalgie-Welle über die gesamte BRD schwappte. Es war nicht alles so schlecht, was in der DDR, zumindest kulturell, stattfand. Auch hier darf das weinende Auge nicht vergessen werden. Im Arbeiter- und Bauernstaat wurden ebenfalls Künstler ausgegrenzt, diffamiert und von inoffiziellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit regelrecht fertig gemacht – als bestes Beispiel sei der Dresdner Mail-Art-Künstler Jürgen Gottschalk genannt, oder eben auch Thomas Gatzemeier und Gerhard Richter.

Bei Hans Aichinger gab es während der Nachwendezeit auch Zweifel. Doch nicht nur damals war dies der Fall. „Dass man zweifelt, gehört dazu“, gab er 2009 zu Protokoll. Er erklärte auch warum. „Zweifeln liegt in der Natur des Künstlers. Ich zweifele oftmals von Bild zu Bild, hatte größere Krisen – unabhängig von den äußeren Umständen. Dann fragt man sich schon, ‚Ist meine Kunst überhaupt sinnvoll?‘. Erfolg und Anerkennung sind wichtig. Geld als verknappte Sprache dieser beiden Aspekte äußert das. Sie kann Sympathie aber auch Misserfolg ausdrücken. Handwerklich sollte es bei keinem Künstler Zweifel geben, aber inhaltlich sollte man schon lesen können, was ein Künstler fühlt. Dann kommt es darauf an, wie viel man zulässt. Ich kann das mit gegenständlicher Malerei besser ausdrücken als mit ungegenständlicher Malerei.“

Hans Aichinger »Truth« oil on canvas 110 x 110 cm, 2013 (courtesy maerzgalerie 2016)
Hans Aichinger »Truth« oil on canvas 110 x 110 cm, 2013 (courtesy maerzgalerie 2016)

Der bärtige Mann nahm den dampfenden Milchkaffee vom Tisch, legte das bunt eingebundene Caravaggio-Heft auf den selben und trank einen Schluck. Durch die hohen Fenster konnte man die graue Wolkendecke beim Vorbeiziehen beobachten. Der Wind hatte schon längst die letzten Blätter von den Bäumen gefegt, Nebel schlug sich feucht auf das Kopfsteinpflaster. In der ehemaligen Stuckateur-Werkstatt war es auch nicht viel wärmer. Die Heizung funktioniere nicht so richtig, wies Hans Aichinger auf die Kühle im Atelier hin Er schaute dabei auf seine Gemälde.

Für Aichinger ist die gegenständliche Sprache für viele leichter lesbar, weil er mit Zeichen arbeitet, die jeder kennt. „Abstrakte Gehversuche habe ich auch einmal versucht“, blickte er noch einmal in die Zeit nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zurück. „Doch dem fühlte ich mich nicht gewachsen, weil ich selbst nicht beurteilen konnte, wann ich mit einem Gemälde fertig bin oder nicht.“

Es müsse weiter gehen, hielt er noch fest, als müsse er sich selbst motivieren. Zum Glück habe ich einen Galeristen, der sich um alle formalen Dinge kümmert. So werde ich im kommenden Frühjahr wieder eine eigene Personalausstellung haben. Es gibt auch noch andere Pläne, wie die durch Skandinavien wandernde Gruppenausstellung mit dem Thema ‚Leipziger Schule‘. Nach der Fußball-WM in Südafrika wird es in Kapstadt noch eine Ausstellung meiner Bilder geben. Ich werde zur Ausstellungseröffnung dort sein. Aber ich sehe die Sache realistisch. In Südafrika gibt es keine große Kunstszene, was mir viele immer berichten, eigentlich fast gar keine. Deswegen erhoffe ich mir davon nicht viel. Kapstadt ist eine große Stadt mit viel Geld, künstlerisch ist das aber nicht wichtig. Aber ein Abenteuer.“

Abgeschlossen hatte er zum Zeitpunkt des Gesprächs mit der Lebenszeit bis 1989 noch nicht. Ihn verbanden seine Gefühle noch mit der DDR. „Nun ja. Vor zehn Jahren war ich in Kuba“, erinnerte er sich. 1999 befand er sich wegen eines Arbeitsaufenthaltes in der Casa Alejandro de Humboldt in Havanna auf der Karibikinsel. „Dort tritt man auch auf diese wunderliche Situation: Ahnungslosigkeit trifft auf viel Hoffnung“, beschrieb er seine Eindrücke von Fidel Castros sozialistischem Eiland. „Es gibt aber auch viele interessante Menschen. Damit meine ich die künstlerischen Positionen, die sie mit den ehemaligen DDR-Künstlern und den Menschen teilen. Man schaut so als Randbeobachter auf diese Situation wie in ein Aquarium. In dieser exotischen Karibik ist eine völlig andere Kultur. Dort fand ich mich aber selbst wieder. Da gibt es staatsüberzeugte Funktionäre und Dissidenten in diesem despotischen System. Man hat so den Überblick. Und manchmal ist es nicht schlecht, sich aus den Prozessen heraus zu nehmen. Dieser randständige Beobachter war ich schon vor der Wende und habe es mir immer bewahrt.“

Aichinger sprach in diesem Zusammenhang davon, dass seine Generation die Wende bewusst miterlebte und dass dies ein Glück gewesen sei. Er „möchte die Erfahrung der Neuorientierung nicht missen“, und sah in der Wende einen „Vorteil“. Er begründete es auch mit den Worten, dass die Erfahrung, im Leben einmal gescheitert zu sein, auch ein wichtiger Erfahrungswert sein kann und eben nichts mit den heutigen glatt gebügelten Biografien zu tun habe. „Man sieht die Dinge anders, wenn man nicht nur auf der Siegerstraße ist und ständig den Fortschrittsglauben herunter predigt.“

Aufschlussreiche Rückansichten – Wie im MdBK Provenienzforschung betrieben wird

Provenienzforscher lesen anstatt der Vorderseiten die Rückseiten der Bilder. (Foto: ARTEFAKTE 2016)
Provenienzforscher lesen anstatt der Vorderseiten die Rückseiten der Bilder. (Foto: ARTEFAKTE 2016)

Der Zeitraum 1933 bis 1945 hält noch heute Forscher auf Trab, auch in Leipzig. Damals erwarb das Museum Skulpturen, Gemälde und Grafiken aus Privatbesitz. Einige dieser Stücke wurden unter Zwang von ihren ehemaligen Besitzern verkauft oder von den Nationalsozialisten zwangsenteignet. Kunsthistorikerin Birgit Brunk geht der Geschichte dieser Kunstwerke nach und entdeckt so manche neue Spur.

Arbeitserleichterungen und Recherchen

Sie ist Provenienzforscherin und arbeitet seit Oktober 2015 um Museum für Bildende Künste in Leipzig. Gemeinsam gemeinsam mit der Gemälderestauratorin Antje Hake steht sie in der Restaurierungswerkstatt des Museums und überprüft die Rückseite eines Bildes, das aus der Hand des „Milljöh“-Zeichners Wilhelm Busch stammt. Auch das kleine Gemälde von Wilhelm Busch besitzt eine Geschichte, die so noch nicht erzählt wurde. Auf dessen Rückseite befinden sich Siegel, Stempel und eine handschriftlich verfasste Eigentumserklärung. Die Rückseite des Buschbildes ist ein seltenes Beispiel dafür, wie man mithilfe der Rückseiteninformationen relativ schnell Klarheit über die früheren Besitzverhältnisse erzielen kann. Dieses Bild hat sich im Besitz der Familie Busch befunden und ist 1968 dem MdbK geschenkt worden. Laut Birgit Brunk eine „eine unkritische Provenienz“. Meist gestaltet sich die Auswertung der Informationen auf der Rückseite deutlich mühsamer, erklärt sie. Zollstempel und die Etiketten von Ausstellungen müssen datiert und zugeordnet werden. Das erfordert Detektivarbeit.

Mit der Provenienzforschung kam die promovierte Kunsthistorikerin recht früh in Kontakt. Für die Museumsstiftung Wilhelm Lehmbruck in Duisburg erarbeitete sie bereits einen Bestandskatalog. Im Zuge der Recherchen wurde ihre Arbeit schnell zur Forschung zur Geschichte der Bilder und Skulpturen. Auch wenn die Werke oft erst in den 1960er Jahren ins Lehmbruck Museum kamen, so stellte sich doch die Frage, wo sich die Werke zwischen 1933 und 1945 befunden hatten. In Leipzig geht sie derselben Frage nach. Neben den Kunstwerken gehören alte Bestandskataloge, Dokumente in Archiven und Online-Datenbanken zu ihren Recherchemitteln. „Man muss mit offenen Augen auch diese Geschichte der Kunstwerke anschauen“, sagt die Forscherin. Wie man die Vergangenheit der Bilder und Skulpturen 2016 klärt, sei laut Birgit Brunk mit der Schwierigkeit der lückenlosen Recherche verbunden. Die einstigen Besitzer leben größtenteils nicht mehr. Erbengemeinschaften treten mit ihren Ansprüchen oftmals an die Museen heran.

In den vergangenen Jahren habe sich aber im Bereich der Provenienzforschung viel getan, stellt die Kunsthistorikerin auch fest. Mit den Online-Datenbanken des Getty Research Institute in L.A. existiere ein riesiger Fundus mit digitalisierten Auktionskatalogen und Handelsbüchern wichtiger Kunsthändler mit einer Fülle von Einträgen, die eine Forschung an der Geschichte von Kunstgegenständen leicht mache. „Ich muss nicht in die USA fliegen, um in den dortigen Archiven zu suchen. In ein bis zwei Mausklicks habe ich die Datei, die ich zur Überprüfung benötige. Das erleichtert die Arbeit sehr.“

Vorrangig wird die NS-Zeit erforscht

Am Museum der Bildenden Künste stellt sich auch eine andere Perspektive dar. Auch hier gingen während der NS-Zeit und Sowjetischen Besatzungszeit Kunstwerke verloren. Ein Auslöser war die von den Nazis als Propagandaschau beworbene Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937. Aus Beständen verschiedener deutscher Museen wurden Werke impressionistischer und expressionistischer Künstler zusammengetragen und bei einer Ausstellungstournee gezeigt. „20.000 Kunstwerke wurden hierfür damals aus den deutschen Museen beschlagnahmt“, weiß Birgit Brunk. „Das Leipziger Museum, das bei dieser Beschlagnahmungsaktion vorrangig über 300 Zeichnungen und Grafiken verlor, hat unter diesen Verlust sehr gelitten.“ Bei der vor einigen Jahren enthüllten Geschichte der Sammlung von Hildebrand Gurlitt kam heraus, so die Kunstforscherin weiter, dass sich im Schwabinger Kunstfund auch Grafiken befinden, die ursprünglich aus dem Bestand des Museums der Bildenden Künste stammen, die dann von Hildebrand Gurlitt zwischen 1933 und 1945 angekauft wurden.

In dieser Zeit gelangten auch Kunstwerke an die deutschen Museen, die von Privathändlern, Galerien und auch von den Voreigentümern direkt verkauft wurden. Die von den Nazis von 1933 an betriebene Entrechtung von Bürgern jüdischen Glaubens führte zu Berufsverboten und schließlich auch zur finanziellen Not der betroffenen Familien. Sie verkauften gezwungenermaßen ihre Kunstgegenstände und Möbel, um entweder weiterleben, oder auch um ausreisen zu können. Gerade in Leipzig waren v.a. Verlegerfamilien betroffen, die innerhalb kürzester Zeit alles verloren. Birgit Brunk gibt auch an, dass sie die Betroffenen oftmals direkt an die Museen wandten, um ihre Kunstgegenstände zu versilbern. „Viele der Menschen waren seit langem für die Museen mäzenatisch tätig, fanden in den Museen direkte Ansprechpartner für ihre Anliegen.“ Sie räumt auch ein, dass die Museen auch Nutznießer der Zwangssituationen der Verfolgten waren. Oftmals gelangte das erzielte Geld auf Sperrkonten und erreichte die sich in der Notlage befindenden Menschen nicht.

Kunsthistorikerin Birgit Brunk (vorn) und Restauratorin Antje Hake (im Hintergrund) begutachten ein Gemälde des „Milljöh“-Zeichners Wilhelm Busch. (Foto: ARTEFAKTE 2016)
Kunsthistorikerin Birgit Brunk (vorn) und Restauratorin Antje Hake (im Hintergrund) begutachten ein Gemälde des „Milljöh“-Zeichners Wilhelm Busch. (Foto: ARTEFAKTE 2016)

Was ist mit der Zeit von 1945 bis 1990?

Am MdBK ist die Zeit der Sowjetischen Besatzungszone und DDR auch wegen laufender Forschungsergebnisse in Bezug auf die Bodenreformzeit am fortschreiten. „Was noch nicht systematisch in den Fokus genommen wurden, ist das Schicksal von Republikflüchtlingen, deren Besitz enteignet wurde“, zieht sie hier eine Trennlinie in ihren Forschungen. Diese können nur dann systematisch vorgenommen werden, wenn hierfür ein Forschungsauftrag vorliege. „Mein Auftrag ist derzeit, nach Abschluss der Provenienzrecherchen zu den Erwerbungen zwischen 1933 und 1945, die Klärung der Provenienzen der Erwerbungen ab 1945. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Identifizierung von Kunstwerken, die möglicherweise einen nationalsozialistisch bedingten Verfolgungshintergrund haben“, betont sie ihren künftigen Schwerpunkt. Bei diesen Recherchen werde sie natürlich auch auf Fälle von DDR-Unrecht treffen, so die Kunsthistorikerin weiter. Gar nicht so selten finden sich bei Ankäufen nach 1945 unterschiedliche Unrechts-Tatbestände aus ehemals jüdischem Besitz. Diese seien dann von dem DDR-Staat enteignet worden.

Die Sowjetische Besatzungszeit wird bei ihrer Forschung künftig stärker berücksichtigt, wenngleich sie ihre Recherchen auf die NS-Raubkunst eingrenzen. Dennoch könnte die Periode zwischen 1945 und 1948 sehr viele neue Erkenntnisse zur Bestandsentwicklung bringen. In den Inventarbüchern des Museums finden sich zahlreiche Einträge zu den sogenannten „Schlossbergungen“. Aus dem Museum gelangten auch viele Kunstwerke in die damalige Sowjetunion, die im Zuge einer großen Rückgabeaktion 1959 zurück ins MdbK fanden. „Sechs Kunstwerke fehlen noch dem Museum“, weist sie auf einige kleine Lücken im Leipziger Bestand hin. Aus Sicht des Museums ist dies ein verschwindend kleiner Teil im Vergleich zu anderen Museen. Bei den sogenannten Schlossbergungen und Enteignungen, die in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR stattfanden, eröffne sich ein größeres Forschungsfeld. „Es gibt vom damaligen Rat der Stadt Leipzig Übereignungen an das MdBK. Ein großer Teil wurde bereits geklärt, ein kleiner Teil muss genauer untersucht werden.“

Daraus ergeben sich weitere Probleme. Im Hinblick auf die Rückübertragung von Eigentumsrechten an Grundstücken und Gebäuden war eine Vorentscheidung für die Lösung der damit zusammenhängenden offenen Vermögensfragen durch die Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 15. Juni 1990 gefallen. In der Gemeinsamen Erklärung heißt es, dass die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage (1945-1949) „nicht mehr rückgängig zu machen“ seien. Für die Enteignungen der DDR 1949-1990 wurde der Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ festgelegt. Die Gemeinsame Erklärung wurde über Art. 41 Abs. 1 Bestandteil des Einigungsvertrags und im Grundgesetz verankert. Die in der Erklärung festgelegten Eckpunkte wurden im Vermögensgesetz konkretisiert. Dieses Gesetz regelt den Restitutionsanspruch der enteigneten Alteigentümer.

Laut Birgit Brunk tue sich die Kultusministerkonferenz (KMK) derzeit schwer damit, das Forschungsfeld der Provenienzforschung auf die DDR-Zeit zu erweitern. Diese will bei der Erstellung des neuen Leitfadens für Provenienzforschung die Themen getrennt behandelt sehen. Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht bereits 2009 festgestellt, dass diese Enteignungen, zumindest aufgrund der Bodenreformen von 1945 bis 1948, schweres Verfolgungsunrecht seien. Das hebelt zumindest zum Teil den Abwehrversuch der letzten DDR-Regierung unter Hans Modrow aus, die Rechte der damals enteigneten Eigentümer in volles bürgerliches Eigentum zu überführen. „Das Thema ist noch sehr präsent“, so Birgit Brunk. „Im nächsten Frühjahr werden wir innerhalb des Arbeitskreises für Provenienzforschung dieses Problem als Schwerpunkt behandeln.“

Eine rechtliche Grundlage von Ansprüchen für Enteignungen aus der Bodenreformzeit und DDR gibt es derzeit noch nicht. Der Bundesgesetzgeber hat in der Vergangenheit für die unterschiedlichen historischen Sachverhalte unterschiedliche gesetzliche Regelungen getroffen. Das Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 regelt den Umgang mit enteignenden Maßnahmen der Sowjetischen Besatzungszone. Das Vermögensgesetz, ebenfalls von 1994, regelt den Umgang  mit Enteignungen und enteignungsgleichen Maßnahmen der DDR. Für mögliche Ansprüche aufgrund von Enteignungen während der NS-Zeit auf dem Gebiet der späteren DDR gilt der  § 1 Absatz 6 des Vermögensgesetzes. Das Sächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur (SMWK) gibt Auskunft, dass der Bund laut Koalitionsvertrag die Provenienzforschung zur Klärung der Ansprüche früherer Eigentümer von Kunst- und Kulturgut, das von Behörden in der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone sowie in der DDR den rechtmäßigen Eigentümern entzogen wurde, verstärken will. Mit dem Thema Kulturgutverluste während der Sowjetischen Besatzung und in der DDR befasst sich auch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste, das von Bund und Ländern gemeinsam getragen und finanziert wird.

Hintergrund Restitutionen in der Bundesrepublik

Seit 1990 beschäftigt sich das Museum für Bildende Künste in Leipzig intensiv mit Rückgabeansprüchen von enteigneten Eigentümern oder ihren Angehörigen. 1998 gaben verschiedene Staaten in der Washingtoner Erklärung ab, dass im Fall von NS-verfolgungsbedingtem Kulturgut eine faire und gerechte Lösung zwischen der kulturgutbewahrenden Einrichtung und dem Alteigentümer bzw. dessen Erben oder sonstigen Rechtsnachfolgern vorgesehen werden soll. Rechtsverbindlich ist diese Erklärung wegen Verjährung nicht, dennoch gibt es eine moralische Verpflichtung der Museen, etwaigen Ansprüchen nachzukommen. Die Washingtoner Erklärung bezieht sich auf verfolgungsbedingten Entzug während der NS-Zeit. Sie ist eine Selbstverpflichtung der Träger von öffentlichen Einrichtungen und gilt auch in den Fällen, in denen kein Restitutionsanspruch besteht, wie eben beim Versäumen von Anmeldefristen.

Erst mit dem Fall des Kunstsammlers Hildebrand Gurlitt und dem Verdacht, dass er noch Bestände aus dem Besitz jener Menschen besaß, die ihre Kunstgegenstände unter Zwang und Druck verkaufen mussten, gerät die Provenienzforschung verstärkt in den Fokus des öffentlichen Interesses. Buchautor Stefan Koldehoff stellte in seinem Buch „Die Bilder sind unter uns – Das Geschäft mit der NS-Raubkunst und der Fall Gurlitt“ fest, dass zwischen 1933 und 1945 über 600.000 Kunstwerke von jüdisch-gläubigen Familien, Galeristen und Kunstsammlern entwendet, oder unter Wert zwangsversteigert wurden. 12.000 restituierte Werke, 67 Museen, 90.000 überprüfte Werke sind aufgrund der Presseinformation der Kulturstiftung der Länder vom 12. Februar 2014 bekannt, die die Kulturstiftung der Länder im Rahmen der Pressekonferenz zu “Provenienzforschung in Deutschland- Ergebnisse und Ausblicke“, herausgegeben hat. Diese Daten beruhen auf Angaben der Arbeitsstelle für Provenienzforschung, die zwischenzeitlich in die von Bund, Ländern und Kommunen Anfang 2015 errichtete Stiftung „Deutsches Zentrum Kulturgutverluste“ integriert wurde. Für Sachsen selbst fehle nach Auskunft des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst (SMWK) derzeit noch ein statistischer Überblick über Kunstwerke, die restituiert wurden oder auf die noch Rückgabeansprüche bestehen.

 

 

Relikte aus der Bodenreformzeit – Am Grassimuseum für Angewandte Kunst sind Rückforderungsansprüche weitestgehend abgeschlossen

Aus der Not geboren? "Art Déco" ist kunsthistorisch ein Verlegenheitsbegriff, wie Barock und Rokoko. Hier: Blick in die Ausstellung im Grassimuseum für Angewandte Kunst in Leipzig. Das Gebäude und die Innenräumen entstanden Ende der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts und werden ebenfalls als "Art Déco"-Architektur verstanden, obwohl dies kein Quellenbegriff ist und von zeitgenössischen Kommentaren als "modern" bezeichnet wurde. (Foto: Artefakte 2016)
Aus der Not geboren? „Art Déco“ ist kunsthistorisch ein Verlegenheitsbegriff, wie Barock und Rokoko. Hier: Blick in die Ausstellung im Grassimuseum für Angewandte Kunst in Leipzig. Das Gebäude und die Innenräumen entstanden Ende der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts und werden ebenfalls als „Art Déco“-Architektur verstanden, obwohl dies kein Quellenbegriff ist und von zeitgenössischen Kommentaren als „modern“ bezeichnet wurde. (Foto: Artefakte 2016)

Wenn von Rückforderungsansprüchen und Restitution gesprochen wird, denkt man schnell an die durch die Nationalsozialisten vorgenommenen Enteignungen deutscher Familien jüdischen Glaubens und die Zwangsverkäufe von Kulturgegenständen. Ein weiteres Feld öffnet sich rund um das Thema Sowjetische Besatzungszeit, DDR und Bodenreformen. Auch das Leipziger Grassimuseum erzählt bei näherem Hinblicken eine interessante Geschichte.

Zwischen Plünderung und Rettung

„Junkerland in Bauernhand“, lautete ein Motto aus der Zeit der Bodenreformen von 1945 bis 1948 in der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone, aus der dann später die Deutsche Demokratische Republik hervor ging. Ab dem 3. September 1945 erließen die Landesverwaltungen der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) aufgrund des „Befehls Nr. 1“ der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) Verordnungen zur Durchführung einer Bodenreform, in deren Verlauf Großgrundbesitzer mit mehr als 100 Hektar Fläche und Besitzer kleinerer Betriebe, die man ohne gerichtliche Überprüfung als Kriegsverbrecher und aktive NSDAP-Mitglieder einstufte, entschädigungslos enteignet wurden. Vorreiterin der Bodenreform war die Provinz Sachsen. Sie erließ bereits am 3. September 1945 eine Verordnung über die Bodenreform. Neben dem enteigneten und neuverteilten Grundbesitz der über 10.000 Agrarbetriebe ging den ehemaligen Großgrundbesitzern auch ihr Besitz verloren. Dies betraf sowohl Wohnhäuser und Geldvermögen als auch Mobiliar und Kleidung. Vielfach kam es zu Plünderungen und auch Beschädigungen. Auch Leipzigs Umland war davon betroffen. Die umliegenden Rittergüter und Großbesitzungen wurden verstaatlicht, Teile der Ausstattung gelangten aber auch in das Grassimuseum. Die Koordinierung des Zuflusses von Gegenständen ans Museum geschah nicht nur von Dresden aus, auch bäuerliche Vereinigungen und Kreisräte versuchten Einfluss zu nehmen, was an u.a. in das Grassimuseum und Museum der Bildenden Künste kommen sollte, sagt Olaf Thormann, Direktor des Grassimuseums für Angewandte Kunst. Es gibt auch vieles, was an die Bibliotheken und Archive Leipzigs kam. Er führt aus, dass der erste Nachkriegsdirektor am damaligen Kunstgewerbemuseum ein denkmalpflegerisch versierter Mann war, dem sehr viel an der Rettung der Kunst- und Kulturgegenstände lag. Er hieß Hellmuth Bethe. Kurz nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft wurde er Direktor am Leipziger Kunstgewerbemuseum, wo er schon in den Dreißigerjahren Volontär für die Dauer von zwei Jahren war. Dem Kunsthistoriker war der Aspekt des Bewahrens und Rettens der Kunstschätze wichtig, so Thormann weiter, denn in den Herrenhäusern und Schlössern wurden in der Nachkriegszeit oftmals Flüchtlinge untergebracht, die aus Unkenntnis viele der wertvollen Gegenstände zerstörten. Da wurde neben dem Kaninchenstall auch der wertvolle Schrank für ein Feuerchen zerhackt und verbrannt. Deswegen sind nach den Ausführungen Thormanns die Überführungen der verbliebenen Kunstgegenstände u.a. auch ins Grassimuseum als Sicherstellungen zu verstehen. „Der Begriff tauchte damals in den Akten sehr häufig auf. Dass hier durch den SMAD-Befehl Eigentumsrechte beschnitten wurden ist unstrittig, aber durch das Handeln Bethes konnten wirklich viele Gegenstände vor der Zerstörung bewahrt werden.“

Der damalige Direktor besaß zu verschiedenen Schlössern und Güter Kontakte im Umland Leipzigs, wie z.B. Frohburg und Störmthal und Wiederau, woher dann auch u.a. Gegenstände von Gegenständen ins Grassimusseum kamen. Hinzu kam die knifflige Lage des Museums selbst. Durch die Bombenangriffe ging auch ein Teil des Bestands verloren, ebenso durch Transporte in die Sowjetunion. Bei letzterem gingen 60 bis 70 % des Museumsbestandes 1946 nach Moskau. Das Museum war zum Teil ausgebrannt, die Lagerung der Kunstgegenstände konnte ebenfalls nur unter schwierigen Bedingungen gewährleistet werden. Die  Sicherstellung und Verwahrung der Gegenstände aus den Enteignungswellen von 1945 bis 1948 sei angesichts der Nachkriegssituation zudem die dominierende Prämisse des damaligen Direktors gewesen. Noch heute zeugen einzelne Lücken in der Bestandsaufnahme von der Problematik, so der Grassidirektor weiter, denn zusammenhängende Möbel- und Geschirrgruppen wurden oft lediglich in ihrer Gesamtheit erfasst. Dafür gibt es verschiedene Gründe, führt er aus, der Not der damaligen Zeit war es geschuldet, dass „blutige Laien“ die Gegenstände listeten. Man habe die Dinge aus Fremdbeständen zwar separat zum eigentlichen Museumsbestand aufbewahrt, aber es seien aus Raum- und Personalmangel trotzdem Durchmischungen mit dem Altmuseumsbestand geschehen. „In den Neunzigerjahren wusste man zwar, dass es Enteignungsbestände gab, sind aber nicht von dem museumseigenen Bestand konsequent getrennt verzeichnet worden.“

Noch schwieriger herauszufinden, welche Kunstgegenstände aus den Enteignungswellen der Bodenreformen und welche aus dem Museumsbestand stammen, gestaltet sich die Situation, die aus den staatlich erzwungenen Museumsbestandsverkäufen an den Kunsthandel in den Sechzigerjahren entstand. Quellen dazu sind im Stadtarchiv ausfindig zu machen. „Mitte der Sechzigerjahre ist das Museum in eine große Bringepflicht gekommen“, erklärt Thormann die Schwierigkeit, enteignete Kulturgüter ausfindig zu machen. „Hunderte Stücke gingen an den Kunsthandel.“ Die Listen sind sehr ungenau geführt worden: Herkunftsgeschichte und Nummern wurden nicht vermerkt. „Es gibt kaum eine Chance, diese Dinge zu identifizieren, außer wenn eine Inventarnummer dazu geschrieben wurde.“

Hinzu kommt die Schwierigkeit der in die Sowjetunion abtransportierten Altbestände des Museums. Zwar sind Ende der Fünfzigerjahre Kunstgegenstände wieder in die DDR gebracht worden, aber diese wurden aufgrund von Zuordnungsproblemen durch fehlende Akten von Berlin aus in verschiedene öffentliche Sammlungen in der DDR verteilt. Die in der Sowjetunion verbliebenen Stücke aus Leipzig werden z.T. im Puschkin-Museum in Moskau noch ausgestellt.

Eine große Detektivarbeit

Thormann stellt heraus, dass das Herausfinden welches Stück aus welcher Sammlung stamme, eine ernstzunehmende Detektivarbeit sei. Zuerst müssen die Quellen für die Gegenstände eruiert werden, dazu kommt der Vergleich anhand von Fotos und Bestandslisten, sofern sie vorhanden sind.

Seit Anfang der Neunzigerjahre können alle Antragsberechtigten an den Landesämtern für Offene Vermögensfragen ihre Anfragen richten. Die Stadt Leipzig unterhielt ein Amt zur Regelung für offene Vermögensfragen, das sich mit den Landesämtern abstimmte. „Das Gros der offenen Fälle konnten wir bereits in den Neunzigerjahren klären“, sagt er und fügt hinzu: „Mitunter kann man wegen der Zuordnungsproblematik auch von einem detektivischen Puzzlespiel reden. Dennoch konnten wir die Gesamtheit eines Bestandes, der aus Enteignungen zu uns kam, nicht zu 100 % aufklären.“

Der Direktor des Museums für Angewandte Kunst stellt auch heraus, dass man wenigstens zum Teil nahe der Hundertprozentmarke gekommen sei, einen Großteil der Rückforderungsansprüche bereits erledigt habe und betont die freundschaftlichen Beziehungen, die aus der Arbeit entstanden ist. „Paradebeispiel sind unsere seit 2007 im Sammlungsteil „Antike bis Historismus“ die Tapeten aus dem Römischen Saal“, erklärt er. In diesem Raum befinden sich auf Leinwand gemalte „Tapeten“, die 1945 von den Wänden des in den 1985 gesprengten Schlosses Eythra geschnitten wurden, als Rollen im Grassimuseum lagerten und deswegen restaurierungswürdig waren. „In den Neunzigern war die Stadt Leipzig sehr gut darin, uns sowohl für die Restaurierung als auch für den Ankauf Mittel zur Verfügung zu stellen. Gemeinsam mit dem Alteigentümer entwickelten wir das Konzept, das 2007 in die Präsentation des römischen Saals mündete. Für beide Seiten war diese Lösung zum Vorteil.“ Auch in anderen Fällen hat das Grassimuseum für Angewandte Kunst sich mit Alteigentümern geeinigt. Sonst habe man Restitutionsansprüche weitestgehend geregelt, wenn auch da hin und wieder ein Nachzügler auftaucht.

Nicht jedes Stück war kostbar und gut erhalten

Das zumindest sagt Thormann unter Berufung der alten Quellen. In der Nachkriegszeit seien Möbel und andere Gegenstände aus Schlössern geholt worden, die z.T. in einem sehr verwahrlosten Zustand waren. „Es kam vor, dass die Dinge im Keller, auf dem Hof oder auf dem Dachboden standen, Wind und Wetter ausgesetzt waren“, weiß der Grassi-Direktor über den Zustand der ins Museum gekommenen Stücke zu berichten. „Wir haben auch Möbelruinen, wo wir gern klar Schiff gehabt hätten“, meint er zu ihrer vermeintlichen Herkunft.

Ende der Neunzigerjahre wurden im Grassimusum für Angewandten Kunst alle Fremdgegenstände, die nicht zum Altbestand des Museums mit einer Inventarnummer versehen, so der Direktor weiter. So werden die Gegenstände verwaltbar. Die Herkunft und Identität wurde so überschaubar. Im Einzelfall mag es aber noch eine Grauzone der Zuschreibung geben, meint der Kunsthistoriker und verweist auf die lange Geschichte des Leipziger Kunstgewerbemuseums, die bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreicht und auf ein bürgerliches Engagement zurück geht. „Es war auch eines der ersten Museen, die in den Dreißiger Jahren begonnen hatte, seinen Bestand zu fotografieren.“ Damals seien knapp 95 % des Gesamtbestandes des Grassimuseums für Angewandte Kunst bereits abgelichtet worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten Objekte im Museum erst seit den Achtzigerjahren fotografisch erfasst werden – denn vorher gab es keine Stelle für einen Fotografen.

Das Problem mit den Inventarnummern

1896 gingen die Sammlungen das Kunstgewerbemuseum in städtischen Besitz über. Im Zuge der Übernahme wurde ein neues Inventarnummernsystem eingeführt. Dann passierte etwas, was man wohl als einen großen Verlust in der Museumsgeschichte bezeichnen würde. Weil die alte Sammlung u.a. auch zu großen Teilen aus Exponaten aus der Zeit des Historismus stammte und um die Jahrhundertwende diese Epoche verpönt war, weil sie bereits vergangene Epochen wie Barock und Renaissance imitierte, trennte sich das Museum von diesen Dingen. Wer heute also zu diesen Gegenständen forscht, kann über das Inventarsystem des Museums auch seine Geschichte ablesen. „Dieser Überführungsprozess wurde jedoch nie richtig vollendet“, so Thormann weiter. „In Einzelfällen haben wir heute noch Stücke aus z.B. dem Jahr 1875, die nie richtig dokumentiert wurden. Aus der Anfangszeit des Museums gibt es aus heutiger Sicht nur mangelhafte Aufzeichnungen. Manchmal kann man feststellen, wann so ein Gegenstand in unsere Sammlung kam, oftmals aber auch nicht.“ Bei nicht-identifizierbaren Beständen gäbe es eine sogenannte Abgleichpflicht, um Fremdbestand von Altbestand trennen zu können. Mitte März erst ist es einer Volontärin am Grassimuseum für Angewandte Kunst gelungen, eine im Museum eingelagerte Predella mit der Darstellung einer Gregorsmesse aus dem 15. Jahrhundert seine Herkunft wiederzugeben. „Wir hatten beim damaligen Inventarisieren keinen Beleg, der Auskunft über seine Herkunft geben konnte“, erklärt Thormann. Die Museumsmitarbeiterin forstete alle Quellen durch und stellte fest, dass dieser noch 1881 in Münchner Privatbesitz sich befand, vom Grassimuseum aufgekauft und in Leipzig hätte inventarisiert als Predella werden müssen, und nicht als Truhe. Das Stück soll 2017 im Reformationsjubiläumsjahr ausgestellt werden.

Die Ausstellungen im Grassimuseum für Angewandte Kunst (Auswahl)

Angewandte Kunst aus den Niederlanden und Flandern

Präsentiert werden nicht nur die berühmten kobaltblau bemalten Fayencen und Fliesen der Delfter Manufakturen, sondern auch Metall- und Glasarbeiten des 18. Jahrhunderts.

Dauer: 16.04. – 16.10.2016

 

Tapio Wirkkala

Die Kühle und Natur des Nordens des finnischen Designers Tapio Wirkkala (1915–1985) zeigt das Grassimuseum ab Juni.

Dauer: 02.06. – 03.10.2016

Gottes Werk und Wort vor Augen – Kunst im Kontext der Reformation

Innerhalb der Dauerausstellung „Antike bis Historismus“ zeigt das Museum Objekte mit Bezug zur Reformation und dem Zeitalter der Konfessionalisierung. Neben Skulpturen, Werken der Goldschmiedekunst, keramischen Arbeiten, Objekten aus Zinn, Plaketten und Medaillen werden auch Objekte gezeigt, die im Zusammenhang mit  Reformationsjubiläen im 19. und 20. Jahrhundert entstanden sind. Zusätzlich werden weitere Objekte aus dem Bestand, insbesondere Grafiken und Bücher, präsentiert. Darunter auch die Predella aus dem 15. Jahrhundert.

Dauer: 24.11.2016 – 01.01.2018