Obwohl auch er einen Leipzig-Hintergrund besitzt, zählt Thomas Gatzemeier nicht wie Hans Aichinger, Tim Eitel und Neo Rauch zu den ganz Großen der hiesigen Kunstszene. Der inzwischen in Karlsruhe lebende Maler und Schriftsteller vertrat schon früh gegenüber den meisten Künstlern dieser Stadt seine eigene Position und geht seit 1986 erst recht seinen eigenen Weg. Bis 28. August stellt der Maler neue Arbeiten in der Städtischen Galerie Döbeln aus. Vom 28. September bis 13. November sind in einer Wunderkammerschau seine Werke im Kunstverein Siegen zu sehen. Vom 7. Oktober bis zum 12. November findet ebenfalls eine Wunderkammerausstellung in der Kölner Galerie Koppelmann statt. In der Evangelischen Dorfkirche St. Maria und St. Veit Stetten im Reistal sind vom 16. Oktober bis 27. November ist ebenfalls eine Ausstellung des Künstlers zu sehen.
Hoheneck und Naumburg waren auch die Auslöser
Die Ursachen für seinen Weggang aus der DDR vor 30 Jahren liegen woanders. Nicht seine Malerkollegen, auch nicht das Leben in der DDR waren die Gründe für Gatzemeiers Ausreise – vorrangig waren es politische. Sein Entschluss wuchs, nachdem er mitbekam, was mit seiner Schwägerin im Hochsicherheitsgefängnis Hoheneck bei Chemnitz geschah. Plötzlich drang das DDR-System aus Überwachung und Bevormundung mitten in seine Familie ein. Was ihn vorher trotz Antretens vor dem „Kadi“ kaum gekratzt hatte, traf ihn nun mitten im Leben. Wer einmal die heutige Gedenkstätte von Hoheneck besucht hat, kennt das Gefühl der Beklemmung in dem düsteren, auf einem Hügel nahe Chemnitz gebauten, burgähnlichen Frauengefängnis aus der Wilhelminischen Epoche, wo Insassinnen gegen Devisen die Bettwäsche für westdeutsche Versandhäuser nähten. Aus dem persönlichen Beweggrund wurde schließlich ein politischer.
Der Ausgangspunkt lag in einem früheren Ereignis. Gatzemeiers Bruder und dessen Frau demonstrierten bereits 1984 zusammen mit anderen Oppositionellen in Jena offen gegen die SED-Führung – fünf Jahre, bevor in Leipzig die Kritik auf die Straße getragen wurde. „Alle sind samt und sonders in den Knast gegangen“, blickt Gatzemeier zurück. „Mein Bruder hat mit zehn anderen Leuten jeden Samstag mit ans Revers angesteckten weißen Rosen auf dem Marktplatz von Jena gesessen – ohne Spruchbänder, Plakate und Losungen.“ Der Maler erklärt, dass die weiße Rose das Symbol des Widerstands sei – eine Erinnerung an die gleichnamige Widerstandsgruppe, die 45 Jahre zuvor in München gegen das Hitler-Regime agitierte. „Das nahmen die Jenaer Oppositionellen auf und stellten sich stumm auf den Marktplatz. Alle bekamen ein Jahr Haft aufgebrummt.“ Der einstige Schüler Arno Rinks war selbst seit dem 16. Lebensjahr bei der Staatssicherheit und anderen DDR-Behörden aktenkundig gewesen und wurde nach dem Studium von weit über zehn IM (Inoffizielle Mitarbeiter) und IMB (Inoffizielle Mitarbeiter Beobachtung) überwacht. Er bekundet heute, den Ärger mit den Staatsicherheitsleuten ganz gut durchstanden und seinen Weg gefunden zu haben. „Irgendwann muss ich wohl eine rote Linie überschritten haben“, so Gatzemeier. Diese „rote Linie“ war sein Ausreiseantrag, nachdem Familienmitglieder seine Schwägerin im Frauengefängnis Hoheneck besuchten und ihm von den dortigen Verhältnissen berichteten. „Ihre Stubenälteste war eine lebenslänglich inhaftierte KZ-Wärterin. In der Bettwäsche, die sie in Hoheneck nähte, durfte meine Schwägerin später im Aussiedlerheim in der BRD schlafen“, konstatiert der Künstler nicht ohne Sarkasmus ob des menschenfeindlichen Systems, in das Politik und Wirtschaft der BRD verstrickt waren und von welchem sie profitierten. Gatzemeiers Bruder war in Naumburg inhaftiert. Er war mit Schwerkriminellen – Mördern, Totschlägern, Kinderschändern, Vergewaltigern – untergebracht. Der Maler durfte seinen Bruder einmal im Monat besuchen. Nach einem Jahr wurden dieser und dessen Frau von der BRD freigekauft.
Dieser Umstand und das Wissen darüber, wie die SED mit Andersdenkenden umgeht, waren Auslöser für Gatzemeiers Ausreise. Auch er bekam infolge seines Ausreiseantrags Probleme mit dem Staat: Einbrüche in sein Atelier, regelmäßige Einbestellungen in die Behörden, v. a. in die Abteilung Inneres – nebst der Drohung mit Inhaftierung und Existenzvernichtung. Gatzemeier deutet an, dass sein damaliger Verhöroffizier heute Immobilienmakler in Döbeln sei. „Mit meiner Antragsstellung wurde es also auch richtig heiß für mich.“
Keiner wusste, ob eine solche Vorladung auch eine Inhaftierung oder eine Sofortausreise mit sich bringen würde. Man packte also zu jedem Termin die Zahnbürste ein, brachte die Kinder zu den Großeltern. Es folgte erst einmal ein Ausstellungsverbot für den Maler. In Leipzig wollte er im „Klub der Intelligenz“ ausstellen. Ein behördliches Schreiben erging an die dortigen Angestellten, die unterschreiben mussten, dass Gatzemeier republikfeindlich gesinnt sei und seine Werke dort nie wieder ausgestellt würden. Das Schreiben fand er später in seiner Stasi-Akte. Sämtliche Versuche, in der DDR auszustellen, wurden auf diese Weise zunichtegemacht. Er zog sich ins Kunsthandwerk zurück und konnte auf diese Weise seine Brötchen verdienen – aber auch nur, weil die DDR-Behörden vergaßen, seine Steuernummer zu löschen. „Finanziell oder materiell gesehen gab es also keinen Grund für eine Ausreise“, schmunzelt der Künstler heute. Wie glimpflich er aber davon kam, zeigt die Biografie des Dresdner Grafikers Jürgen Gottschalk. Geradezu dessen ganzes Leben war in der DDR von Inoffiziellen Mitarbeitern bestimmt worden, bis sich die Schlinge zuzog, weil er sich aus dem Gefängnis des überwachten Lebens befreien wollte: zwei Jahre Haft wegen zwei damals nie veröffentlichten Sätzen in einem fiktiven Selbstinterview, in denen er 1984 die Politik der SED kritisierte.
Willkommen in der Bürokratenrepublik Deutschland
Der Eindruck, den der Maler in anderer Weise vom „Goldenen Westen“ hatte, war ebenfalls nicht so glänzend, wie die bunte Werbefilmwelt im Fernsehen auch in der DDR suggerierte. Denn bevor es mit der Kunst weiterging, musste er sich zunächst mit anderen Dingen auseinandersetzen.
„Hast du jetzt einen Fehler gemacht, von Deutschland nach Deutschland zu ziehen – war das schlau?“, fragte er sich damals und spricht von der „Bürokratischen Republik Deutschland“. „Ich wurde zunächst mit einer Flut an Bürokratie erschlagen. Das hieß: Ämter, Ämter, Ämter – von der Geburt bis zum Tod muss alles registriert sein.“ Auch die Anerkennung als politischer Flüchtling sei damals „ein ziemlicher Ritt mit dem Amtsschimmel“ gewesen. „Für einen Beamten, mit dem ich zu tun hatte, war jeder, der aus dem Osten kam, ein Kommunist“, beschreibt der Aktmaler die Konflikte nach seiner Ankunft in Westdeutschland. Die heute vorhandene Wohnungsnot habe es in den Achtzigerjahren in der BRD noch nicht gegeben. Er sagt lachend: „Wir bekamen eine Wohnung, die fast so schön wie eine Altbauwohnung in Döbeln war – auch den baulichen Zustand betreffend.“
Zum Lachen fanden er und seine Familie es jedoch nicht, dass sie kurz nach ihrem Einzug einen Zeitungsausschnitt der BILD in ihrem Briefkasten fanden. Darauf stand die Überschrift: „Die Ostdeutschen nehmen uns die Rente weg.“ Heute schmunzelt er, dass dieselben Ängste nun vor Migranten geschürt werden. Manches ändere sich eben nie. Später habe man sich mit der Nachbarin, die den Schnipsel in den Briefkasten warf, gut verstanden. „Sie war im Übrigen mit einem Griechen verheiratet und arbeitete in einem Ausländerzentrum“, sagt er mit Verweis darauf, wie die Medien mit Vorurteilen spielen und wie leicht sich Menschen beeinflussen lassen. Ein Spiel, das in beiden Teilen Deutschlands beherrscht wurde und seit der Wiedervereinigung noch immer gespielt wird. „Es war einfach schizophren, was damals abging und auch heute noch so ist.“
Nochmals von vorne anfangen
„Ich bin mit einer großen Naivität in den westdeutschen Kunstmarkt hineingerauscht“, reflektiert Gatzemeier heute seine Anstrengungen, in der BRD künstlerisch Fuß zu fassen. Er sei 10.000 km durch Deutschland von Galerie zu Galerie gefahren und habe den Galeristen seine Mappe vorgestellt. Ein Fehler, den er heute nicht mehr machen würde. „Das war sehr erniedrigend“, hält er sich erinnernd fest, dennoch hatte er recht schnell Anschluss gefunden.
„Thomas Gatzemeier hinterließ einen so nachhaltigen Eindruck, dass wir bis heute zusammenarbeiten“, bestätigt die damalige Kölner Galeristin Ingrid Koppelmann auf Anfrage von ARTEFAKTE hinsichtlich seiner Kontaktaufnahme im Jahr 1988. Die heute noch existierende Galerie war eine der ersten Anlaufstellen für den ehemaligen DDR-Künstler, den man heute unter dem vom Eigen+Art-Galeristen Gerd Harry „Judy“ Lybke Ende der Achtzigerjahre eingeführten Kunstmarktbegriff „Neue Leipziger Schule“ führen könnte, wäre Gatzemeier in der DDR und somit auch in Leipzig geblieben. „Ingrid Koppelmann ist sehr liberal. Ihr war es gleichgültig, woher die Künstler stammten“, meint der bekennende Jacopo-da-Pontormo-Fan, der wusste, dass Köln damals ein großes Zentrum der zeitgenössischen Malerei gewesen war. Gute Voraussetzungen für einen Neustart.
Künstlerisch wieder Boden zu gewinnen, war für ihn als Vertreter der in der DDR hoch geförderten und gelehrten figurativen Malerei nicht ganz einfach. In seinem neuen Heimatland Baden-Württemberg galt das Diktat der abstrakten Malerei. „Obwohl in Karlsruhe die Malerei der Neuen Sachlichkeit ihren Ursprung hatte“, weiß der versierte Kenner der Kunstgeschichte, „war die Nachkriegsschule rein von der ungegenständlichen Malerei beeinflusst.“ Markus Lüpertz lehrte an der Karlsruher Kunstakademie, ebenso der aus der DDR ausgereiste Georg Baselitz. Bis sich ein „Reingeschmeckter“ hier etabliert hat, dauere es drei Generationen, sagte Professor Siebenmorgen vom Badischen Landesmuseum scherzhaft zu ihm.
Nach seiner ersten Ausstellung in der Galerie Koppelmann jedoch folgten Teilnahmen an Kunstmessen und weitere Ausstellungen. An die zyklisch wiederkehrenden Krisen des Marktkapitalismus, wie es der Künstler beschreibt, habe er sich erst gewöhnen müssen. Inzwischen ist der Künstler auch beruhigt und sagt selbstbewusst, dass er keinen Markt bedienen müsse. Gatzemeier präsentiert sich als Allrounder ganz im Sinne der Renaissance, versteht sich auch als versierter Schriftsteller mit Durchblick und Erzählkraft. Der Aktmalerei ist er treu geblieben. Auch wenn er – und das begrüßt er – nicht immer den Geschmack des Publikums trifft. Mit der Kölner Galerie „Kunstwerk Nippes – Galerie Koppelmann“ ist er heute noch verbunden. Die damalige Besitzerin Ingrid Koppelmann hat das Geschäft inzwischen an ihre Tochter Janine übergeben. 2016 wird dort die dritte Ausstellung mit Gatzemeier nach der Übernahme durch die nächste Generation gezeigt.
Was ist der Jenaer Kreis?
„Mein Bruder und meine Schwägerin sind 1984 inhaftiert worden“, erinnert sich der Maler aus Döbeln mit der Vorliebe für die italienische Renaissance und Aktmalerei. Er schildert, dass beide im Jenaer Weißen Kreis tätig gewesen seien. Dort bildete sich zu Beginn der Siebzigerjahre die „Junge Gemeinde Jena-Stadtmitte“ um den Diakon Thomas Auerbach heraus. Diese Gruppierung konnte laut Historiker Ehrhardt Neubert eine ältere widerständige Tradition in Jena aufgreifen und Kritiker sowie Oppositionelle aus Industrie und Universität aufnehmen. Es entwickelten sich weitere Zellen, wie die von den Schriftstellern Lutz Rathenow, Jürgen Fuchs, Bernd Markowski und Wolfgang Hinkeldey. Nach der 1976 erfolgten Ausweisung Wolf Biermanns aus der DDR organisierten die Jenaer Oppositionellen im selben Jahr eine Solidaritätsaktion für den Liedermacher, die in einer von vielen Schriftstellern unterzeichneten Protesterklärung und einer anschließenden Verhaftungswelle kulminierte, bei der rund 50 Personen inhaftiert wurden. 1984 wollte die SED die oppositionelle Bewegung in der DDR endgültig gewaltsam zerschlagen. Zehntausende reisten seit Anfang 1980 Jahr für Jahr aus der DDR aus oder stellten Ausreiseanträge, wurden von Behörden, systemkonformen Kollegen und Stasi schikaniert und kriminalisiert. Die Oppositionellen zogen sich in die Themenbereiche Ökologie und Menschenrechte zurück. Offene Kritik am SED-Regime trat bis 1989 nur noch selten zu Tage.
Hier geht es zum „virtuellen Zuhause“ von Thomas Gatzemeier.