Im Schatten von Max Klinger – Wie schwer Otto Greiners Aufstieg in den Kunstolymp war

Daniel Thalheim

2020 wurde als einhundertstes Todesjahr von Max Klinger mit einer Ausstellung im Museum der bildenden Künste begangen. Aktuell findet eine Ausstellung zu Klingers Schaffen in der Kunsthalle Bonn statt. Im Reigen der Bilder und Exponate wurde einer vergessen, mit dem Klinger im engsten Kontakt und Austausch stand: sein jüngerer Kollege Otto Greiner (16.12.1869 – 24.09.1916). Jener Mann, der aus den proletarischen Niederungen Leipzigs zu einem der meist geachteten Künstlern seiner Zeit aufstieg, aber glücklos in seinen Bestreben war, wirklich von seiner Kunst leben zu können. Er stand im Windschatten Klingers. Kunstkritiker seiner Zeit achteten und respektierten seine Kunstfertigkeit. Andere wiederum kritisierten seinen Gestaltungsmut und neu entwickelten Formen der bewegten Körperhaltung.

Aus der Armut entwachsen

Otto Greiner gehört zu den letzten großen Vertretern des Symbolismus und der Spätromantik im deutschsprachigen Raum. Sein Fokus lag, wie damals auch bei Max Klinger (1857-1920), in der Bearbeitung klassisch-antiker Themen Griechenlands. Sein besonderer Verdienst wird in der Fachwelt in seinen Zeichnungen und in seinen Lithographien gesehen. Greiner erhob, nach Adolph von Menzel (1815-1905), als einer der ersten Künstler einer jüngeren Generation die Lithographie aus einer reinen Vervielfältigungstechnik zu einer ausschließlich kunstgestalterischen Technik.
Greiners Biografie beschreibt den gesellschaftlichen Aufstieg eines begabten Jungen aus ärmlichen Verhältnissen zu einen geachteten Künstler. Er kam über das Handwerk zur Kunst. Ein Blick in die Familiengeschichte offenbart die zerrütteten Verhältnisse seiner Eltern, wodurch er wohl größtenteils bei seiner Großmutter und seinen Tanten aufwuchs. Sein Vater zog nach Magdeburg nachdem er geboren war. Seine Mutter verstarb früh. So wuchs der junge Greiner zunächst bei seiner Großmutter Johanna Erdmuthe Greiner (verh. Marggraf bzw. Markgraf, +1886) auf, die eine Frau eines Schuhmachers war und sich ab 1865 als Witwe in Leipzig durchschlagen musste. Sie war zunächst als Ehefrau (oo1829) eines Gohliser Gutsbesitzers Georg Marggraf bekannt, die am 19. Februar 1833 in Eutritzsch in zweiter Ehe den Schuhmachermeister Julius Ernst Greiner (08.10.1803 – ca. 1864) heiratete. Aus den Quellen geht hervor, dass acht Kinder aus dieser Ehe hervorgingen, wovon der Vater Otto Greiners, Ernst Moritz, in Leipzig später als Zigarrenarbeiter tätig war und in zweiter Ehe 1864 Friederike Amalia Ida Fischer ehelichte. Otto Greiners Onkel Ernst Paul Greiner (1850 – ca. 1910) war mit wechselnden Adressen von ca. 1885 an Stein- und Buchdruckereibesitzer der Firma Hermann Springer u.a. im werdenden Druckereiviertel an der östlichen Peripherie der heutigen City und in der heutigen Südvorstadt. Offenbar hatte Ottos Oheim die Hand auf die Ausbildung seines Neffen. Nach dem 1880 begonnenen Besuch der Leipziger Volksschule begann der werdende Künstler 1884 eine Ausbildung zum Lithograph. Jedoch nicht in der Firma seines Onkels, sondern in der Druckerei von Julius Klinkhardt. Otto Greiner nahm auch Zeichenunterricht bei Georg Arthur Haferkorn (+1923), Zeichenlehrer an der an der Zweiten Städtischen Fortbildungsschule für Kinder in der heutigen Südvorstadt.
1887 konnte der aufstrebende Künstler aufgrund seines Talents frühzeitig seine Lehre beenden, 1888 wechselte er nach München.
Dort begann Greiner an der Kunstakademie sein Studium in der Klasse des ungarisch-österreichischen Historienmalers und Illustratoren Alexander (Sandor) von Liezen-Mayer (1839-1898), einem Schüler des Münchner Malerstars Karl von Piloty (1826-1886). Finanziert wurde das Studium durch den Herausgeber der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“, Adolf Kröner (1836 – 1911). Anlässlich der Großen Kunstausstellung in Dresden 1904 fallen seine zeichnerischen und grafischen Qualitäten auf. Seine malerischen Schritte wurden ebenfalls wohlwollend aufgenommen.
Schon 1892 bemerkte der Leipziger Kunsthistoriker, später Direktor des Museums der bildenden Künste (1924-1929) und des Leipziger Kunstgewerbemuseums (1896-1929) sowie Gründer der Grassi-Messe, Richard Graul (1862-1944), im Rückgriff zur Münchner Ausstellung 1890, wie sehr Greiner die Lithographie künstlerisch erneuerte – ein Talent, das sich erst im Studium in München beim Künstler zeigte und so auch den Kontakt zum Maler Adolph von Menzel (1815-1905) einbrachte.
1891 ging Greiner für eine Studienreise nach Florenz, traf dort den gleichaltrigen Kunsthistoriker Georg Gronau (1868 – 1937), der ihn bei seinem Aufenthalt unterstützte. In Florenz und in Rom vertiefte er sein klassisches Studium, auch aus Ermangelung an Geld an seinem Körper. Der Künstler stand für sich selbst Modell. In Rom unternahm er v.a. auch Landschaftsstudien der ländlichen Umgebung der Stadt. 1892 brach er wegen Geldmangels seinen Rom-Aufenthalt ab. Er befand sich nach einem beschwerlichen Fußmarsch über Innsbruck und München zwischenzeitlich wieder in Leipzig, wohnte, wie andere arme Künstler, in den Ruinen der damaligen Burgbefestigung bis er 1893 endgültig nach Rom übersiedelte und dort auf den seit 1888 niedergelassenen Max Klinger traf. Der in Rom entstandene Kontakt mit seinem Leipziger Kollegen soll Greiner bestärkt haben, sich tiefer mit der Malerei zu beschäftigen. Zudem übernahm er Klingers verwaistes Atelier am Kolosseum. War es zunächst die Malerei von Arnold Böcklin (1827 – 1901), die Greiner „unendlich glücklich machte“, so ist es jetzt Klinger mit seinem Naturstudium und impressionistischen Malweise, die nun Greiner beeindruckt. Der Kontakt zu Klinger intensivierte sich. Seine druckgrafischen Illustrationen zur griechischen Mythologie wurden fantasievoller und figurenreicher.

Der Weg zum Erfolg

Nach den ersten Treffen in Rom intensivierte sich der Kontakt zu Klinger. Trotz Greiners Daueraufenthalt in Rom, suchte er das für ihn so „spießig“ empfundene Leipzig nur wegen seines Künstlerfreundes auf, der sich im Lauf der Zeit mit einer Entourage aus Künstlern wie u.a. dem Illustrator und Bildhauer Sascha Schneider (1870 – 1927), Grafiker Louis Carl Bruno Héroux (1868 – 1944), Maler und Grafiker Paul Horst-Schulze (1876 – 1937), Maler und Grafiker Richard Müller (1874 – 1954), Maler und Grafiker Otto Richard Bossert (1874 – 1919), dem aus Wien stammenden Maler und Grafiker Alois Kolb (1875 – 1942), Architekt und Hochschulprofessor Friedrich Felix Thalheim (1861-1922) und dessen Bruder, der Kunstschlosser und Innungsvorsitzende Gottfried Alfred Thalheim (1858-1933), Illustrator und Karikaturist Louis Erich Gruner (1881 – 1966), Bildhauer, Grafiker und Dichter Fritz Zalisz (1893 1971), Maler und Grafiker Walter Julius Hammer (1873 – 1922) und Maler, Illustrator und Grafiker Otto Weigel (1890 – 1945) umgab. Wir können annehmen, dass Otto Greiner in diesem illustren Kreis dazugehörte. Auch sein Kontakt zum Kunsthistoriker und Greiner-Biograf Julius Vogel festigte sich.
Während seines kurzen Leipzigaufenthaltes 1892 kam der noch wirtschaftlich gefestigte Lithograph in der ehemaligen Pleißenburg in einem Dachboden unter. Die Stadtbefestigung, die um 1899 bis 1905 dem, von Hugo Licht (1841-1923) entworfenen, Neuen Rathaus wich, diente damals Künstlern als notdürftige Behausung. Greiner erhielt in Leipzig, wohl unter Vermittlung von Max Klinger, Aufträge; das Festprogramm für den „Cantate-Montag“ des Börsenvereins der deutschen Buchhändler 1893 machte den Anfang. Eine Buntstiftzeichnung für die Druckvorlage von Ehrendiplomen für die Zimmerer- und Maurermeister, die zu Obermeister erhoben wurden, ist bekannt, befindet sich womöglich noch in Privatbesitz der Gewerbekammer bzw. seiner Rechtsnachläuferin, die Handwerkskammer zu Leipzig. Eine weitere Buntstiftzeichnung fertigte Greiner 1895 als „Huldigungsadresskarte“ anlässlich der Ehrenbürgerwürde des damaligen Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck an („Bismarck-Adresse der Stadt Leipzig“). Laut der 1980 erschienenen Dissertation von Birgit Götting „entstand“ Greiner als Künstler aufgrund seiner Aufträge für Handwerkslithographien.
Sein Leipzigaufenthalt blieb nur eine Episode. Er kehrte zunächst zur bayrischen Landeshauptstadt zurück. In München leistete Greiner seinen einjährigen Militärdienst ab, wobei eine Studie zu einem nie verwirklichten Gemälde „Schlacht an der Weißenburg“ 1894 entstand. Ein Blatt mit Abbildungen von französischen Soldaten im Kampf befindet sich im Graphischen Kabinett des Museums der bildenden Künste in Leipzig. Nach Einschätzung seines Biografien J. Vogel wurde der Lithograph in München in einer großen Künstlergemeinschaft aufgenommen. Hier waren die Voraussetzungen für die Kunst wesentlich als besser einzuschätzen als in Leipzig um die Jahrhundertwende. Unter den Münchnern Freunden Greiners zählten der Landschaftsmaler Toni Stadler (1888-1982), die Maler Franz von Lenbach (1836-1928) und Franz von Stuck (1863-1928). Sie unterstützten den Grafiker. 1896 entstand in München u.a. der Großdruck „Die Tanzenden“. Im selben Jahr stellte er das Ölgemälde „Odysseus und die Sirenen“ fertig.
In Greiners Münchner Zeit blieb er mit Klinger und seinem Freundeskreis verbunden. Darunter zählte auch der Mathematiker Prof. Ernst Lehmann (1850-1912). Ihn porträtierten Klinger wie auch Greiner.
Wir können davon ausgehen, dass Klinger mit seiner 1894 endgültigen Sesshaftwerdung in Leipzig mit dem Bau seines Atelierhauses an der Klingervilla die Übergabe seines Ateliers in Rom an Otto Greiner besprach.
Denn 1898 übernahm Greiner das Atelier Klingers in Rom. Dort ließ er sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nieder. In dieser Stadt lernte er auch seine Gattin „Nannina“ Duranti kennen und heiratete sie 1906 in Leipzig. Fortan tauchten sie und ihre Mutter in zahlreichen Grafiken auf. Sie erhielt durch die in Leipzig durchgeführte Heirat die deutsche Staatsbürgerschaft. In Rom entstand Greiners Hauptwerk, sowohl lithographisch als auch malerisch. Immer wieder trat seine sächsische Heimatstadt in Form von Bildnissen bekannter Bürger auf. Greiner porträtierte in „Exlibris“-Drucken auch seinen einstigen Zeichenlehrer Arthur Haferkorn (1897 während eines Leipzigaufenthaltes entstanden) und die Verlegerfrau Marianne Brockhaus. Letztere wurde in einer großformatigen Lithographie 1899 lebensecht festgehalten. Auch Richard Wagners Ehefrau Cosima Wagner (1837-1930) hielt er grafisch fest. Nach der Jahrhundertwende wandte sich der Künstler verstärkt der Ölmalerei zu. So fertigte er Ölgemälde seiner Frau an, entwickelte in Anlehnung an Klingers Werk antike Themen wie „Odysseus bei den Sirenen“ (1902), „Herakles bei Omphale“ 1905 und „Eros“ 1909. Dazu gesellten sich Bildnisse von Leipziger Köpfen wie das 1907 entstandene Porträt von Greiners Freund Hans Langheinrich, das sich im Besitz des Museums der bildenden Künste Leipzig befindet. 1914 bildete Greiner auch seinen Freund Max Klinger in Leipzig auf Steindruck ab. Auch der Leipziger Kunstprofessor und Expressionist Paul-Horst Schulze (1876-1937) gehört zu den abgebildeten Freunden des Künstlers. Im Auftrag der Leipziger Firma J.J. Weber bereitete er für die Deutsche Nationalbibliothek zwei große Wandgemälde vor, die er aufgrund seines 1916 jäh erfolgten Todes nicht beginnen konnte. Diesen Auftrag gab Klinger an Greiner wegen seiner zu hohen Arbeitsbelastung ab. Von den Studien existieren u.a. Buntstiftzeichnungen.
Wirtschaftlich ging es dem Grafiker in seinen letzten Jahren offenbar besser als in seiner Jugendzeit. Sein letztes Selbstporträt, das sowohl in Kreide als auch in Öl entstand, zeigt einen Mann, der in den besten Jahren war. 1914 befand er sich noch einmal kurz in Leipzig, um 1915 kriegsbedingt aus Rom erneut nach München fliehen zu müssen. Dort arbeitete er an seinen Studien zum Gemälde „Triumph der Venus“ weiter. Seit Jahren das subtropische Klima in Rom gewöhnt, hielt das Münchner Klima ihn nicht davon ab, seine Studien auf dem Dach seines Wohnhauses durchzuführen. Er war der Meinung, seine Arbeit ließe sich nur als Freilichtarbeit anfertigen. Im Atelierlicht wirke alles statisch und tot, wohingegen in der Freilichtmalerei, durch das Sonnenlicht verändernden Lichtspiele, mehr Lebendigkeit entstehe. Er verstarb am 24. September 1916 offenbar an einer Lungenentzündung. Max Klinger hielt seinen Freund und Kollegen in seinem für die Aula der Universität Leipzig bereits 1909 in einem Porträt fest. In „Hellas und die Blüte Griechenlands“ taucht er als Schüler in einer Gruppe von Zuhörern auf. Fast schon erscheint J. Vogels in seiner 1925 veröffentlichten Biografie über den Künstler formulierten Einschätzung, Greiner würde in Zukunft im Lichte Klingers verschwinden und nicht mehr wahrgenommen, fast als ein Omen. In der Fachwelt und in der Öffentlichkeit werden Otto Greiner und sein Werk bis heute kaum wahrgenommen. Sein Werk bleibt bislang unbewertet und bislang nicht in die Sezessionsströmungen um 1900 eingeordnet. Grenzt er sich einerseits von zeitgenössischen Strömungen wie Impressionismus, Fauvismus und Expressionismus ab, führt mit seiner künstlerischen Haltung ein klassisches Bild ins 20. Jahrhundert, das aufgrund der Darstellung jugendlich nackter Körper die Nähe zum Art Nouveau sucht, aber eher einem romantischen klassisch-antiken Ideal der Nacktkörperkultur entspricht wie wir sie im Werk von Max Klinger und Ferdinand Hodler (1853-1918) ebenfalls zu diesem Zeitpunkt finden können.