Neue Prüderie? – Warum Nacktheit keine Zumutung in der Kunst ist

Daniel Thalheim

2018 wurde der Ruf nach Verhülltheit in den Museen wieder laut. In Bildern dargestellte Frauen wären zu nackt. Die ausgestellten Sujets seien entweder sexistisch oder nur pure Pornografie, wird als Meinung kund getan. 2020 sorgte das Enthüllen des Makart-Historiengemälde in der Hamburger Kunstsammlung nicht für die Aufregung, wie 2018 die „#MeToo“-Debatte um historische Malerei. Hans Makart (1840-1884) war ein österreichischer Maler und Dekorationskünstler, der von Kaiser Franz Joseph I. nach Wien berufen wurde. Makart war in seiner kurzen Lebensspanne so eine Art Superstar der repräsentativen Malerei im Österreich des 19. Jahrhundert. Seine Bilder orientierten sich an den Sujets und Malweisen von Malern wie Tizian und Rubens. Üppiges Pathos also, das höfisch protegiert wurde. Er vertrat eine von Farben berauschte Malerei zwischen Plüsch, Pomp und Wucht.

Makarts Ölschinken aus dem Jahr 1878 mit einer Gesamtfläche einer kleinen Zweiraumwohnung zeigt den Triumphzug von Kaiser Karl V. Das Bild stellt den Einzug des Kaisers in Antwerpen dar. Der Kaiser hat im Geleit fünf junge und nackte Damen. Ihnen stellte der Maler verschiedene Attribute, Schwert, Amphore, Blumen, bei. Es scheint, der Maler gesellte dem jungen Kaiser Karl V. weich gezeichnete Nymphen hinzu. Allesamt sind u.a. die aus der griechischen Mythologie stammenden Najaden und Napaien allegorische Figuren, die seit der Renaissance den Kunsthistorikern und anderen Bildlesern immer als junge und nackte Damen vorgesetzt werden, wie u.a. in einem Gemälde von Bartolomeo Veneto (um 1480 – 1530), v.a. auch von John William Waterhouse (1849-1917), Gustave Doré (1832-1883), Anselm Feuerbach (1829-1880), William Adolphe Bouguereau (1825-1905) und Arnold Böcklin (1827-1901). Sie stellten Nymphen stets als nackte Frauen dar.

Auf seiner Homepage diskutiert die Hamburger Museumsleitung in gefilmten Interviews die unterschiedlichen Standpunkte; der Direktor in seiner Rolle als väterlicher Kunstwissenschaftler und ein Kurator, die die Kontroverse mit Geschichtsverständnis abzumildern versuchen auf der einen Seite, auf der anderen Seite zwei junge Damen, die ein Gemälde, wie das Makart‘sche, Kindern und Jugendlichen vermitteln müssen ohne dass die Opferrolle der nackt dargestellten – fiktionalen – Personen in ein sexistisches Licht gerät. 

Natürlich ist es Sexismus.

Von durchsichtigen Schleiern verhüllte Begehrlichkeiten weiblicher Natur aus der notgeil schäumenden Fantasiewelt von Männern waren schon seit dem 18. und frühen 19. Jahrhundert v.a. in Frankreich Anreger für fantasievolle Kopfkinofilme gewesen. Wer denkt nicht an Eugene Delacroix (1798-1863), an Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780-1867) und ihre schwülstigen Haremsfantasien?

Im Pandemiejahr ging dieser kleine „Skandal“ um den Makart in Hamburg nahezu unter. Zu präsent waren die Diskussionen über Lock Downs, Donald Trump und Maßnahmen-Gegner als dass ein öliges Fantasieprodukt für Aufregung sorgen könnte. 

In den Jahren zuvor waren die Debatten um Nacktheit in der Kunst durchaus in der Öffentlichkeit wahrnehmbar. Mit der zugespitzten Frage „Im Museum hängen überall nackte Frauen – und das soll kein Sexismus sein?“ diskutiert ein Artikel vom Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ mit Rückkoppelung des „Lifestyle“-Online-Portals „Bento“ am 18. Februar 2018, dass v.a. Frauen in der Kunst als nackte Objekte von männlichen, vielleicht auch weiblichen, Begierden dargestellt werden. In den Museen sehen wir sie ja; als mystische Gestalten, laszive Göttinnen, grimmige Mörderinnen mit Sex-Appeal, als Beute und Opfer oder anatomisches Wunder. Aufhänger damals war die „#MeToo“-Debatte aus den USA, wo US-amerikanische Prominente weiblichen Geschlechts auf ihre körperlichen Ausnutzungen durch Film- und Branchenmogule, wie dem inzwischen inhaftierten Harvey Weinstein, aufmerksam machten, offen diskutierten und Namen nannten. Aus Angst lukrative Jobs zu verlieren oder erst gar nicht zu erhalten, schwiegen die meisten Frauen jahrelang, zeigten die Vorgänge innerhalb der Film- und Modelindustrie nicht strafrechtlich an.

Sex gegen Job. Sexuelle und seelische Abhängigkeiten werden auch aus Institutionen wie Kunsthochschulen und Universitäten laut.

Übergriffige Verhaltensweisen von Männern auf Frauen sind überall bekannt; sowohl am Arbeitsplatz als auch im Freundeskreis, in der Nachbarschaft und Zuhause. Insofern ist die Frage in Bezug auf die Kunstgeschichte und der wissenschaftliche und öffentliche Umgang mit der weiblichen und männlichen Sexualität von „Spiegel Online“ aus dem Jahr 2018 durchaus berechtigt: und das soll kein Sexismus sein?

In der Malerei existiert Sexismus. Auf einer viel banaleren Art als der Sexismus durch kostenfreie Pornoportale und lukrative Steuereinnahmen aufgrund von SexarbeiterInnen heute?

Ein Bild wegen seiner Nacktheit abzuhängen, wie es 2018 Sonia Boyce in einer Kunstaktion unternahm und auf die sexuelle Degradierung der Frau als Lustgespielin aufmerksam machte, ist das eine. Das mit ihrer Kunstaktion verbundene Abhängen des J.W. Waterhouse-Gemäldes „Hylas und die Nymphen“ in der Manchester Art Gallery gehört in diese Kategorie, wobei der schwülstig geschriebene Erklärtext dem Bild eine Angriffsfläche bot: „Diese Galerie präsentiert den weiblichen Körper als entweder ‚passiv-dekorativ‘ oder als ‚femme fatale‘. Lasst uns diese viktorianische Fantasie herausfordern!“ 

Dabei ist nicht das Bild das eigentliche Problem, wobei auch hier wieder Abstufungen in der Gesamtbewertung vorzunehmen sind, sondern der Text an sich. Es wird vermittelt, dass die als prüde bezeichnete viktorianische Epoche eigentlich nicht prüde war und junge Männer mit minderjährigen Mädchen Sex haben dürften und der antik-mystische Kontext nur bloße Nebensache ist. In diesem Gemälde öffnet sich der Blick, wie es tatsächlich hinter der prüden Fassade Mitte des 19. Jahrhunderts zuging. 

Doch diese Kontexte wurden nicht hinreichend untersucht. In den weltlichen Bildwelten von Rubens & Co. ging es schon heiß zur Sache. Auch in den – religiösen – Renaissance- und Barockgemälden, wo die Darstellung nackter Frauen weitestgehend nicht erlaubt war, aber von nackten Männern, männlichen Kleinkindern und Babys (sogen. Putti), kann man mit Hintergedanken erröten. Die Antike wurde neu entdeckt, ein neues Menschenbild ebenso, FKK auf dem Forum Romanum war in Marmor gemeißelt. Sind Arbeiten wie die von Michelangelo vorgenommene Ausmalung der Sixtinischen Kapelle nichts weiter als schwule Aufgeilpornos für den hohen Klerus gewesen? Oder steckt hinter der aufgeknöpften Fassade aus bloßer Haut und Fleisch nicht nur seiner Arbeiten sogar eine Kritik an Machteinfluss und Manipulation der damaligen Kirche?

Der polnisch-französische Maler Balthus (1908-2001) trieb es auf die Spitze. Es wird kein Hehl daraus gemacht, dass seine Nacktdarstellungen von jungen Mädchen in aufreizenden Posen eine Aufforderung bzw. Hommage an sexuellen Missbrauch von Minderjährigen ist, wie u.a. seine Darstellungen in seinen Bildern „In The Head“, „Mädchen mit Katze“ und „Therese“ suggerieren. Die NZZ titelte sogar, dass Balthus‘ Gemälde eine Bedrohung seien.

 Die Badische Zeitung schreibt über eine Pädophilen-Debatte im Zuge einer abgesagten Balthus-Ausstellung. Ein minderjähriges Modell wird in aufreizenden Posen gezeigt. Die Darstellung über Balthus Werk erinnert frappierend an Debatten über Kinderpornodarstellungen, die auf Handys und Rechnern von Prominenten und Politikern gefunden werden. Auch hier: zu Recht wird der Umgang mit Kinderpornos strafrechtlich verfolgt. Warum nicht auch in der Kunstszene? Ein hoch betagter Balthus nutzte Polaroids von minderjährigen Mädchen für seine Malerei. Natürlich sind Darstellungen wie diese inzwischen keine Freifahrtscheine für das eigens verstandene und angedichtete Genie von Künstlern. Würde heute ein Künstler so arbeiten wie Waterhouse und Balthus zu ihren Zeiten, er würde eingebuchtet. Natürlich ist das seelische und körperliche Ausbeutung, Kinder in aufreizenden Posen sowie nackt zu malen und öffentlich zur Schau zu stellen.

Menschen für das öffentliche Begaffen von sexuellen Akten gegen Geld auszubeuten, ist das andere. Gemälde, wie z.B. aus der viktorianischen Epoche, sind in einer prüden Gesellschaft hervorgegangen. Nacktheit wurde nur Männern gezeigt. Frauen wären nach damaligen Vorstellungen und Gesetzen zu kindisch und zu ungebildet und dürften nur in Begleitung eines Vormunds Kunst und Theater anschauen. Noch vor 120 Jahren galten weibliche Künstler als verdächtig verrückt zu sein. Durften sie das? Besaßen sie eine Erlaubnis? Wurden ihre Bilder in der Öffentlichkeit gezeigt? Nein. Frauen galten bis ins 20. Jahrhundert hinein entweder als Eigentum oder als Mündel ihrer männlichen Vormünder: Vater und Ehemann.

Nicht ganz. Künstlerinnen wie Artemisia Gentileschi verbanden mitunter ihrerseits Sex mit Lust und Mord. Von der italienischen Barockmalerin kennen wir nicht nur reihenweise geköpfte Männer. Vorzugsweise haben von ihr dargestellte Frauen wie Gottesanbeterinnen nach dem Sex ihre Liebhaber bzw. Peiniger und Opfer enthauptet – in Bezug auf historische Legenden, Mythen und Bibelgeschichten. Auch sie malte den weiblichen Körper als fleischliches Objekt der Begierde wie im 1633-35 entstandenen Gemälde „Cleopatra“, „Venus und Cupido“ von 1625-30 und „Bathseba“ von 1645-50. Ihre Gemälde mit fantasievollen Darstellungen von „Luctretia (Borgia)“ und „Maria Magdalena“ (bde. um 1620) verhehlen nicht einen lüsternen Blick auf den weiblichen Körper durch tief geweitete Dekolletés und entblößten Schultern und Schenkeln. Sie und wenige andere Künstlerinnen galten als Ausnahmen in einer von Männern dominierten Welt aus sexueller und psychischer Ausnutzung und Manipulation. 

Um 1900 besuchten Frauen private Malanstalten, sogenannte Damenmalschulen. Doch auch die wurden von Männern betrieben. Kunst in männlicher Diktion den Frauen beigebracht. 

Was passiert heute?

Seit die Emanzipierung der Frau sich katalysatorisch nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigte, setzt in den letzten zwanzig Jahren vermehrt ein Umkehreffekt ein. Zwar haben wir Frauen in Vorständen, Politik, Wirtschaft und Kultur ganz vorn. Doch die Mehrheit von ihnen wird ausgebeutet. Die gesamte Menschheit steckt in einer gesteuerten und manipulierten Welt aus Konsum, Verschuldung und Arbeitszwang. Dazu gehört auch der Verkauf des eigenen Körpers. Wer will das ändern? 

Die geschichts- und kunstrevisionistische Debatte in der Folge der wichtigen und richtigen „#MeToo“-Bewegung verbrämt aber eins; dass die Brille der politischen Korrektheit die Diskussion um die sexuelle Ausbeutung der Frau – und nennen wir die Dinge beim Namen: auch Kindern und Jugendlichen – in hilfloses Lavieren verdreht. Weil es so schwer ist, die verkrusteten Ansichten aufzubrechen, wie Frauen in unseren Gesellschaften behandelt werden, ergeht man sich im Abhängen von Bildern, als wäre dies alles nicht geschehen. Das ist genauso gefährlich wie das Leugnen der Shoa. Der Missbrauch ist aber passiert, er ist tief in unserer Gesellschaft manifestiert. Mit dem Abhängen und Verhüllen von Bildern, dem Umstürzen von Skulpturen irgendwelcher Sklavenhändler und das Umbenennen von Straßennamen patriotischer Dichter aus dem 19. Jahrhundert verändert man die Vergangenheit nicht, schafft sie auch nicht aus der Welt und auch nicht die Zukunft wird so nachhaltig gestaltet. Solche Aktionen sind hilflos und offenbaren die Ohnmacht der Menschen, die sich in der Zange der Zwangsökonomisierung aller Lebensbereiche wiederfinden, sich nicht dagegen wehren können. 

Doch wie will man Darstellungen von nackten Männer-, Frauen- und Kinderkörpern in der Kunst einem Kind erklären, wenn der Kontext seiner Entstehung so ein schreckliches Bild der Manipulation und des Machtmissbrauchs uns Erwachsenen so offensichtlich ist, Kindern vielleicht nicht? 

Prüderie braucht es nicht, sondern Aufklärung.

Benötigen Kunstausstellungen nun, wie für Musik seit 30 Jahren auch schon gehandhabt, eine Altersbeschränkung und einen „Explizit“-Anstecker?

Vielleicht. So eine Abgrenzung würde Kunstwerke nicht reihenweise in die Giftschränke wandern lassen. Nur der Zutritt von Kindern und Jugendlichen zu expliziten Bildern im öffentlichen Raum, Galerien und Museen, dürfte nur in Begleitung von Erwachsenen erfolgen bzw. nicht statthaft sein. Dann müssten wir uns auch lasziven, pornösen und expliziten Selbstdarstellungen von Pop-Stars im Internet zuwenden, die auch Kindern frei zugänglich sind wenn sie ohne Aufsicht im Internet surfen. Altersschranke im Internet? Wer will das alles kontrollieren?

Wir sind alle unfrei. Wir sind alle manipuliert. Wir werden alle in unseren Möglichkeiten beschränkt. Wir brauchen nicht den Rückbau von Sozial- und Gesundheitssystemen. Wir brauchen auch keine Kampagne, die mit dem Finger auf wehrlose Bilder zeigt. Wir brauchen mehr Bildung, mehr Teilhabe und Inklusion in allen Bereichen. Um an dieser Stelle den Philosoph Noam Chomsky zu zitieren; die Grundrechte von Frauen haben sich v.a. in den kapitalistisch geführten Ländern erst seit 40 bis 50 Jahren grundlegend geändert. Das mag Chomsky als Fortschritt sehen. Im Sozialismus setzte die Emanzipation früher ein. Hier wurde die Debatte um die Nacktheit von Mädchen und Frauen bereits im frühen 20. Jahrhundert auf den Punkt gebracht: die sexistische Darstellungen von menschlichen Körpern sind Ausdruck dekadenten Denkens von Adel, Klerus und Bürgertum. Heute ist es nicht anders. Nur dass alle Gesellschaftsgruppen betroffen sind.

Mehr Informationen rund um die Ausstellung „Making History“ in der Hamburger Kunsthalle:

https://www.hamburger-kunsthalle.de/ausstellungen/making-history