Daniel Thalheim
Wenn ein Leipziger Künstler irgendwie etwas in Vergessenheit geraten ist, dann Max Klinger (1857, Leipzig – 1920, Großjena). Zwar hat Leipzig u.a. das Klinger-Haus und eine Klinger-Schule. Doch den Leipziger Tausendsassa der Sezessionismus-Zeit kennt man heute kaum noch. War er bis zu seinem Tod vor 100 Jahren Netzwerker, Allrounder, Suchender und Forschender. Bis zuletzt war der Künstler in den Renovierungsarbeiten der Klinger-Rotunde und -Saals im ehemaligen Kunstmuseum am Augustusplatz involviert. Dank der Dauerleihgaben des Wiener Belvedere können die Leipziger auf die Großtaten des Malers und Grafikers blicken, der nicht nur die griechische Antike in der bildhauerischen Arbeit wiederentdeckte, sondern offenkundig auch ausklingende und abklingende Trends seiner Zeit aufgriff und in seinem Sinne umformte: u.a. die Malerei der Nazarener und die aus England nach Deutschland schwappende Bodybuilder-Manie. Und nebenbei gefragt; wer sind all diese Menschen in Klingers Zeichnungen, Grafiken und Gemälden?
Prometheusfunke und Coronavirus
Die Sonne scheint, der Frühling naht. Während der Leipziger Künstler Paule Hammer im MdbK-Café an seinem Kinski-Monsterkopf arbeitet, findet sich eine Etage darüber eine Meute ein. Bewaffnet mit Notizblöcken, Handys, Mikrofonen, Kameras und anderem Aufzeichnungsgerät folgen sie den Worten des MdbK-Direktors, der Leipziger Kulturdezernentin und den KuratorInnen der vielen Ausstellungsabschnitte.
Kurzfristig wurde die Presserunde vom 5. auf den 4. März verschoben. Der Grund ist der neuartige Virus aus der SARS-Gruppe, das aus China um die ganze Welt schwappt. Eine längere Öffnungszeit am Eröffnungstag lässt nach Adam Ries die Besucher besser in die Räume verteilen. Der scheidende Direktor Dr. Alfred Weidinger kam ganz in Schwarz gekleidet. Nachdem Leipzigs Kulturdezernentin Dr. Skadi Jennicke die Bedeutung der Ausstellung für Leipzig herausschälte, lobte sie auch Weidingers Schaffen in der kurzen Zeit seines Aufenthalts. Er wechselt von Leipzig nach Linz.
Parallel laufende Ausstellungen, immer wieder neue Gesichter, künstlerische Positionen und interessante Einblicke in das künstlerisch webende Geflecht Leipzigs haben in den letzten drei Jahren das Haus in der Katharinenstraße zu einem Schmelztiegel der zeitgenössischen Kunst werden lassen. Für Leipzig ist dieser Ansatz wohltuend. Die Wahrnehmung streut sich in den überregionalen und internationalen Feuilleton, die Ausstellungen lassen weder kreative noch wissenschaftliche Kraft missen, stellen eigentlich auch die Super-Power des Kuratoren- und Ausstellungsteams unter Beweis. Nun der Klinger. Und der Beethoven, und eine Menge „Nack‘sche“.
Weidinger ist vom Fach. Seine wissenschaftlichen Beiträge zur Klassischen Moderne, die Wiener Secession und ihre Folgen, um 1900 in Österreich und Deutschland sind bekannt und auch sein Metier. Dass der Leipziger Malerfürst an seinem 100. Todesjahr mit einer Ausstellung beehrt und geehrt wird, ist daher ein Muss auch für Weidinger selbst, und eine maßgebende Selbstverständlichkeit. Klingers Beethoven, einst 1902 für die Wiener Sezessionsausstellung bestimmt und für das Gesamtkunstwerk im Sezessionsgebäude in Wien gedacht, ist heute noch beeindruckend. Die Skulptur, die lange Zeit im Leipziger Gewandhaus ungefähr an der Stelle stand, wo sich einst im Kunstmuseum am Augustusplatz bis zur Bombennacht 1943 auch die Klingerrotunde befand und bis 1941 Planungen vorangetrieben wurden, im heutigen Lennépark einen größeren Nachlassbau für Klinger zu errichten, atmet heute noch immer den Geist der damaligen Zeit; im Spagat zwischen Tradition (Griechenland der Antike) und Moderne (von Traditionen befreiter Materialeinsatz) stehend, Ikone des Prometheutischen, Genie und Wahnsinn (Felsen, Adler, Leber) seiend.
Wer nach Klinger kam – der Sezessionist und seine Folgen
Für Jennicke und Weidinger sind die beiden Eröffnungstage am 4. März für die Presse und am 5. März für die Besucher die letzten gemeinsamen Auftritte gewesen. Doch ist Klinger nicht auch der schönste Abschied, den ein Museumsdirektor sich schenken und die beste Krone, die er sich aufsetzen kann? Doch Weidinger spielt den Ball an sein Kuratorenteam weiter. Sie haben gemeinsam diese große Schau erst bewerkstelligen können, der unterschiedliche Aspekte in Klingers Schaffen beleuchtet; seine Affinität zum antiken Griechenland und sein Experimentieren mit farbigen, polylithischen Skulpturen, seine Aufenthalte in Paris, Rom und Wien, seine Arbeitsweise, Frauen, Musen und Modelle – und sein Einfluss in die Nachwelt. Käthe Kollwitz (1867, Königsberg – 1945, Moritzburg b. Dresden) ist wohl Klingers bekannteste Einflussnehmerin, die in der Folge mit Elisabeth Voigt (1893, Leipzig – 1977 ebd.) wieder eine Künstlerin beeinflusste, die durch den Filter Kollwitz‘ auch etwas Klinger in die Leipziger Schule einbrachte. Klinger griff Einflüsse seiner Zeit auf, stand offenkundig in kollegialer Freundschaft mit Johannes Raphael Wehle (1848 Radeburg – 1936, Helfenberg b. Dresden), der zur selben Zeit wie Klinger in Leipzig an der damaligen Kunstakademie Kunst unterrichtete und im Gefolge der romantisch-verklärenden Nazarener-Bewegung stand, zu der auch im weitesten Sinne auch Julius Schnorr von Carolsfeld (1794 in Leipzig – 1872 in Dresden) gehörte und auch ein Lehrer Wehles war.
Doch wer sind die Gesichter und Personen in Klingers Zeichnungen und Bildern?
Außer Elsa Asenieff, Klingers heimliche Geliebte und eine Schriftstellerin sowie „Partnerin in Crime“, scheinen in Klingers Werk nur anonyme Personen aufzutauchen. Wer sind die Frauen, deren Gesichter und Körper Klinger studierte, zeichnete und malte? Doch auch die Herren der Schöpfung scheinen von real lebenden Personen abzustammen. Aus des Verfassers Familiengeschichte ist bekannt und wird heute noch erzählt, dass der Maestro in den Sommerwochen nebst Gefolge aus Modellen und Musen seit den 1894ern auf den Thalheim‘schen Stammsitz in Grimma zog, ein wenig Sommerfrische genoss und nebenher auch die dort angebauten Edelpfirsische. Dort fertigte er seine Aktstudien an. Mit dem Leipziger Architekt, Kunstmaler und Hochschulprofessor Friedrich Felix Thalheim (1861-1922) und seiner Frau Karoline (geb. Voigt), ebenfalls künstlerisch tätig, verband ihn eine enge Freundschaft. Viele seiner Werke nahm er wohl wieder nach Leipzig zurück, doch es hieß, dass einiges im Haus in Grimma zurückblieb. Wohin der Erbnachlass geblieben ist, steht in den Sternen. Seine Spur verlor sich in den 1940er Jahren. Diese kurze Geschichte zeigt auf, welche Aspekte in Klingers Schaffen noch auftauchen.
Eine Ausstellung – Zwei Ausstellungsorte
Die am 4. März noch im Aufbau befindliche Ausstellung stellt schon jetzt einen Paukenschlag dar, der Klingers Opus Magnus wieder zurück ins Gedächtnis der Leipziger und auch der internationalen Kunstwelt zurückholt. Sechs Abschnitte auf zwei Etagen werden mit, nicht nur mit Klingers, Skulpturen und Plastiken, Entwürfe, Skizzen, Zeichnungen, Gemälde und Grafiken bespielt, und mit ganz viel Leipziger Kunstgeschichte sowie Liebe zum Detail.