Großausstellung im Klinger-Todesjahr – Ein Tausendsassa und seine Bedeutung in der Kunstgeschichte

Daniel Thalheim

Wenn ein Leipziger Künstler irgendwie etwas in Vergessenheit geraten ist, dann Max Klinger (1857, Leipzig – 1920, Großjena). Zwar hat Leipzig u.a. das Klinger-Haus und eine Klinger-Schule. Doch den Leipziger Tausendsassa der Sezessionismus-Zeit kennt man heute kaum noch. War er bis zu seinem Tod vor 100 Jahren Netzwerker, Allrounder, Suchender und Forschender. Bis zuletzt war der Künstler in den Renovierungsarbeiten der Klinger-Rotunde und -Saals im ehemaligen Kunstmuseum am Augustusplatz involviert. Dank der Dauerleihgaben des Wiener Belvedere können die Leipziger auf die Großtaten des Malers und Grafikers blicken, der nicht nur die griechische Antike in der bildhauerischen Arbeit wiederentdeckte, sondern offenkundig auch ausklingende und abklingende Trends seiner Zeit aufgriff und in seinem Sinne umformte: u.a. die Malerei der Nazarener und die aus England nach Deutschland schwappende Bodybuilder-Manie. Und nebenbei gefragt; wer sind all diese Menschen in Klingers Zeichnungen, Grafiken und Gemälden?

Prometheusfunke und Coronavirus

Die Sonne scheint, der Frühling naht. Während der Leipziger Künstler Paule Hammer im MdbK-Café an seinem Kinski-Monsterkopf arbeitet, findet sich eine Etage darüber eine Meute ein. Bewaffnet mit Notizblöcken, Handys, Mikrofonen, Kameras und anderem Aufzeichnungsgerät folgen sie den Worten des MdbK-Direktors, der Leipziger Kulturdezernentin und den KuratorInnen der vielen Ausstellungsabschnitte.

The Man in Black: Alfred Weidinger, scheidender Direktor des MdbK Leipzig. (Foto: Artefakte 2020)
The Man in Black: Alfred Weidinger, scheidender Direktor des MdbK Leipzig. (Foto: Artefakte 2020)

Kurzfristig wurde die Presserunde vom 5. auf den 4. März verschoben. Der Grund ist der neuartige Virus aus der SARS-Gruppe, das aus China um die ganze Welt schwappt. Eine längere Öffnungszeit am Eröffnungstag lässt nach Adam Ries die Besucher besser in die Räume verteilen. Der scheidende Direktor Dr. Alfred Weidinger kam ganz in Schwarz gekleidet. Nachdem Leipzigs Kulturdezernentin Dr. Skadi Jennicke die Bedeutung der Ausstellung für Leipzig herausschälte, lobte sie auch Weidingers Schaffen in der kurzen Zeit seines Aufenthalts. Er wechselt von Leipzig nach Linz. 

Parallel laufende Ausstellungen, immer wieder neue Gesichter, künstlerische Positionen und interessante Einblicke in das künstlerisch webende Geflecht Leipzigs haben in den letzten drei Jahren das Haus in der Katharinenstraße zu einem Schmelztiegel der zeitgenössischen Kunst werden lassen. Für Leipzig ist dieser Ansatz wohltuend. Die Wahrnehmung streut sich in den überregionalen und internationalen Feuilleton, die Ausstellungen lassen weder kreative noch wissenschaftliche Kraft missen, stellen eigentlich auch die Super-Power des Kuratoren- und Ausstellungsteams unter Beweis. Nun der Klinger. Und der Beethoven, und eine Menge „Nack‘sche“. 

Weidinger ist vom Fach. Seine wissenschaftlichen Beiträge zur Klassischen Moderne, die Wiener Secession und ihre Folgen, um 1900 in Österreich und Deutschland sind bekannt und auch sein Metier. Dass der Leipziger Malerfürst an seinem 100. Todesjahr mit einer Ausstellung beehrt und geehrt wird, ist daher ein Muss auch für Weidinger selbst, und eine maßgebende Selbstverständlichkeit.  Klingers Beethoven, einst 1902 für die Wiener Sezessionsausstellung bestimmt und für das Gesamtkunstwerk im Sezessionsgebäude in Wien gedacht, ist heute noch beeindruckend. Die Skulptur, die lange Zeit im Leipziger Gewandhaus ungefähr an der Stelle stand, wo sich einst im Kunstmuseum am Augustusplatz bis zur Bombennacht 1943 auch die Klingerrotunde befand und bis 1941 Planungen vorangetrieben wurden, im heutigen Lennépark einen größeren Nachlassbau für Klinger zu errichten, atmet heute noch immer den Geist der damaligen Zeit; im Spagat zwischen Tradition (Griechenland der Antike) und Moderne (von Traditionen befreiter Materialeinsatz) stehend, Ikone des Prometheutischen, Genie und Wahnsinn (Felsen, Adler, Leber) seiend. 

Wer nach Klinger kam – der Sezessionist und seine Folgen

Für Jennicke und Weidinger  sind die beiden Eröffnungstage am 4. März für die Presse und am 5. März für die Besucher die letzten gemeinsamen Auftritte gewesen. Doch ist Klinger nicht auch der schönste Abschied, den ein Museumsdirektor sich schenken und die beste Krone, die er sich aufsetzen kann? Doch Weidinger spielt den Ball an sein Kuratorenteam weiter. Sie haben gemeinsam diese große Schau erst bewerkstelligen können, der unterschiedliche Aspekte in Klingers Schaffen beleuchtet; seine Affinität zum antiken Griechenland und sein Experimentieren mit farbigen, polylithischen Skulpturen, seine Aufenthalte in Paris, Rom und Wien, seine Arbeitsweise, Frauen, Musen und Modelle – und sein Einfluss in die Nachwelt. Käthe Kollwitz (1867, Königsberg – 1945, Moritzburg b. Dresden) ist wohl Klingers bekannteste Einflussnehmerin, die in der Folge mit Elisabeth Voigt (1893, Leipzig – 1977 ebd.) wieder eine Künstlerin beeinflusste, die durch den Filter Kollwitz‘ auch etwas Klinger in die Leipziger Schule einbrachte. Klinger griff Einflüsse seiner Zeit auf, stand offenkundig in kollegialer Freundschaft mit Johannes Raphael Wehle (1848 Radeburg – 1936, Helfenberg b. Dresden), der zur selben Zeit wie Klinger in Leipzig an der damaligen Kunstakademie Kunst unterrichtete und im Gefolge der romantisch-verklärenden Nazarener-Bewegung stand, zu der auch im weitesten Sinne auch Julius  Schnorr von Carolsfeld (1794 in Leipzig – 1872 in Dresden) gehörte und auch ein Lehrer Wehles war.

Ist die herausgerissene Leber in Wahrheit Beethovens Zehnte? (Foto: Artefakte 2020)
Ist die herausgerissene Leber in Wahrheit Beethovens Zehnte? (Foto: Artefakte 2020)

Doch wer sind die Gesichter und Personen in Klingers Zeichnungen und Bildern?

Außer Elsa Asenieff, Klingers heimliche Geliebte und eine Schriftstellerin sowie „Partnerin in Crime“, scheinen in Klingers Werk nur anonyme Personen aufzutauchen. Wer sind die Frauen, deren Gesichter und Körper Klinger studierte, zeichnete und malte? Doch auch die Herren der Schöpfung scheinen von real lebenden Personen abzustammen. Aus des Verfassers Familiengeschichte ist bekannt und wird heute noch erzählt, dass der Maestro in den Sommerwochen nebst Gefolge aus Modellen und Musen seit den 1894ern auf den Thalheim‘schen Stammsitz in Grimma  zog, ein wenig Sommerfrische genoss und nebenher auch die dort angebauten Edelpfirsische. Dort fertigte er seine Aktstudien an. Mit dem Leipziger Architekt, Kunstmaler und Hochschulprofessor Friedrich Felix Thalheim (1861-1922) und seiner Frau Karoline (geb. Voigt), ebenfalls künstlerisch tätig, verband ihn eine enge Freundschaft. Viele seiner Werke nahm er wohl wieder nach Leipzig zurück, doch es hieß, dass einiges im Haus in Grimma zurückblieb. Wohin der Erbnachlass geblieben ist, steht in den Sternen. Seine Spur verlor sich in den 1940er Jahren. Diese kurze Geschichte zeigt auf, welche Aspekte in Klingers Schaffen noch auftauchen.

Eine Ausstellung – Zwei Ausstellungsorte

Die am 4. März noch im Aufbau befindliche Ausstellung stellt schon jetzt einen Paukenschlag dar, der Klingers Opus Magnus wieder zurück ins Gedächtnis der Leipziger und auch der internationalen Kunstwelt zurückholt. Sechs Abschnitte auf zwei Etagen werden mit, nicht nur mit Klingers, Skulpturen und Plastiken, Entwürfe, Skizzen, Zeichnungen, Gemälde und Grafiken bespielt, und mit ganz viel Leipziger Kunstgeschichte sowie Liebe zum Detail.

Klinger 2020

06.03.-14.06.2020

Eröffnung am 05.03.2020 um 16 Uhr

Danach wird die Ausstellung im Rahmen des Beethoven-Jubiläums in der Bundeskunsthalle Bonn vom 04.09.2020 bis 10.01.2021 zu sehen sein.

Der Ausstellungskatalog erscheint im April im Hirmer Verlag.

Bildrechte: Artefakte 2020.

Josef Hoffmann und die Wiener Werkstätte

Von Daniel Thalheim

 

Österreich-Ungarn war eines der Epizentren, wovon die Beben der Moderne über ganz Europa ausliefen. Was in Frankreich Art Nouveau gennant wurde, war in der königlich-kaiserlichen Doppelmonarchie die Wiener Werkstätte. Der Architekt und Designer Josef Hoffmann war einer der wichtigsten Protagonisten einer Bewegung, die sich die Arts-&-Crafts-Strömung in England zum Vorbild nahm und zu neuen Ufern führte.

 

Das Fin-de-Siècle in Wien als Vorhof der Moderne im 20. Jahrhundert

„Visionär“ dürfte der richtige Begriff sein für das, was seit den 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg an Entwicklungen in Architektur, Kunst, Literatur und Theater einsetzte. Mitten in diesem Zeitgeist, der so neu und anders war als zuvor, stand die Wiener Werkstätte. In der österreichischen Hauptstadt sehen wir noch die Zeugnisse dieses ästhetischen Neuanfangs: Secessionsgebäude (Joseph Maria Olbrich 1897/98), Majolikahaus (Otto Wagner 1888-1900), Postsparkassenamt (Otto Wagner 1905) usw. Die Klarheit der Architektur, der Form, die Zurücknahme des Dekors standen im krassen Gegensatz zu dem, was offizielle Kunsträson war: neo-barocke Pracht, bombastisches Zierat, funktionslose Deko-Elemente. Was u.a. die Wiener Architekten und Designer mit ihren Ideen konkret in die Wiener Secession 1903 münden ließen, war ihr Anspruch auf die funktionalistische, bzw. nützliche Ausrichtung von Architektur und Design. Das „Einfache, Praktische“ sollte laut Otto Wagner im Vordergrund stehen, nicht das Nutzlose und der Tand. Der Architekt erfand auch den Begriff „Naissance“ zur Umschreibung dessen, was man unter dem Bruch mit den Traditionen verstehen sollte. Wer die Bauwerke um 1900 in Wien erblickt, nimmt die Scharnierzeit einer echten Umwälzung im Kunstempfinden wahr. Nicht nur in Wien greift ein neues Zahnrad der Zeit in das Getriebe von Mode- und Zeitgeschmack ein. Aber Wien darf ruhig als Ausgangspunkt für eine Umwälzung kontinentalen Ausmaßes betrachtet werden. Was Vertreter der Wiener Werkstätte an Formen und Design erfanden, sollte noch in den Zwanzigerjahren Gültigkeit besitzen, und nach der Wiederentdeckung der ersten modernen Strömung im ausgehenden 20. Jahrhundert, immer noch Nachhall finden. Noch immer steht Funktionalismus und Rationalität im Vordergrund des Designs: angefangen von der Kaffeetasse bis hin zur Anbauwand mit integrierter Playstation-Kommode. Doch vieles wird auch verwechselt und mit vagen Begriffen definiert, wenn es um das Aussehen der Werkstätten- bzw. in Deutschland gebräuchlichen Werkbundkunst geht. Art Decó ist so ein Sammelbegriff für den Trödelmarktgebrauch, der stellvertretend für das Design der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts stehen soll, aber eher eine Zuspitzung für eine 1925 stattgefundene Pariser Großausstellung zu den einzelnen Strömungen seit 1900 ist. Dass daraus ein Kunstbegriff wurde, zeugt eher von der Selbstherrlichkeit einiger, v.a. deutscher, Kunsthistoriker, die die Wortherkunft und ursprünglichen Sinn dieses – erst in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts eingeführten – Begriffs ignorieren und vergessen, welche Fabelwelt aus Design, Material und Farbe entstand; mitunter mit chimärenhaften Zügen aus Barockanklängen und antiken Ornamenten.

Ludwig Heinrich Jungnickel: Design for the animal frieze in the children’s bedroom in the Palais Stoclet, c. 1908-1909 (TASCHEN Presse 2017)
Ludwig Heinrich Jungnickel: Design for the animal frieze in the children’s bedroom in the Palais Stoclet, c. 1908-1909 (TASCHEN Presse 2017)

Warum Josef Hoffmann ein Vorreiter der Moderne war

Weiße Flächen, die von vertikalen Ziegelstreifen unterbrochen werden, der klassizistische Fassadenschmuck ist verschwunden, wie eine Siegessäule erhebt sich ein Zikkurat ähnliches Türmchen, das von Figuren flankiert und einem Küppelchen bekrönt wird – das Palais Stoclet in Brüssel (1905-1911) gilt als Hauptwerk des Secessionismus, und auch das von Josef Hoffmann (1870-1956). Er selbst nannte sich „Entwerfer“, heute würde man Designer zu seinem Beruf sagen. Josef Hoffmann war einer der Mitbegründer der Wiener Werkstätte, jener Sezession, die nach Vorbild der englisch-schottischen Arts-&-Crafts-Bewegung und dem französisch-belgischen Art Nouveau neue Formen wagten und mit ihre Bauwerken neue Wege beschritten – mitten hinein in die Moderne.
Josef Hoffmann war der Stararchitekt Wiens der Jahrhundertwende. Die ästhetische Durchgestaltung des gesamten Architekturraums war sein größter Anspruch. Schönheit war sein höchstes Ziel. Auf der anderen Seite erinnert sein Verhalten eher dem eines störrischen Eigenbrötlers und Notorikers, wie wir ihn aus Filmen wie „Aviator“ und „Besser geht’s nicht“ kennen. Fremde Hände bei Begrüßungen zu geben, war ihm ebenso zuwider wie das Betrachten von fleckigen Zeichnungen. Er soll sich sogar geweigert haben, sich in seinem Stammlokal aufzuhalten, weil dort eine künstliche Palme aufgestellt wurde. Seine Marotte ging so weit, dass er rot lackierte Fingernägel nicht sehen konnte. Auf der anderen Seite galt Hoffmann als Gentleman, seine Vorlesungen waren von Frauen überfüllt. Sein Wesen wird als freundlich und aufgeschlossen beschrieben, aber er soll auch sehr schüchtern gewesen sein. Abgesehen von seinen Marotten galt er als Avantgardist der Moderne. Wer seine wenigen Schriften studiert hat, weiß, dass der Designer ein Vertreter der Empfindsamkeit war. Gefühl solle das künstlerische Geschick leiten, nicht aber überbordende Intelligenz und Wissen. Doch auch er griff auf seine Erfahrungen zurück, die er mit seiner Beschäftigung mit der englisch-schottischen Arts-&-Crafts-Bewegung erwarb. Seine frühen Arbeiten stehen unter dem Einfluss von Charles Rennie Mackintosh (1868-1928), jenem schottischen Baumeister, der sich wiederum von asiatischen Stilen und modernen Strömungen beeinflussen ließ. Josef Hoffmann galt für Österreich und Deutschland als der Architekt, der das Handwerkliche und das Ornament den Vorzug gab. Erst im ausgehenden 20. Jahrhundert wurde er wiederentdeckt als Architekten sich vom puren Funktionalismus abwandten. So wurde Hoffmanns Stellung als Avantgardist der Moderne erst richtig bewusst gemacht.

 

August Sarnitz
Hoffmann

Dieser schmale Band ist eine übersichtlich aufgearbeitete Monografie, die als Reihe zur Betrachtung wichtiger Architekten und Designer der Moderne nach Fortsetzung schreit. Zwar erschienen in dieser „Kleinen Reihe“ einige herausragende Monografien über Künstler und Architekten. Doch der Verlag sieht aber derzeit kein Interesse an ähnlich gearteten Monografien, obwohl zahlreiche Urheberrechte ablaufen und die Wiederauflage von wichtigen Werken der Moderne und die Porträts ihrer Apologeten notwendig erscheint.

Hoffmann August Sarnitz, Peter Gössel Hardcover, 21 x 26 cm, 96 Seiten
Hoffmann August Sarnitz, Peter Gössel Hardcover, 21 x 26 cm, 96 Seiten

Warum ist es so wichtig, dass Experten an die Materie ran müssen, die in der klassischen Buchform erschienen sollten? Im Zeitalter von besserwisserischen und stümperhaft verfassten Laienwissenslexika wie Wikipedia erscheint die in Buchform gepresste Aufklärung immer noch die angenehmste Vermittlungsmethode von Wissen zu sein.
Diese Monografie von Josef Hoffmann gehört zweifelsohne zu den Lichtblicken im hart umkämpften Fachbuchmarkt. Informationsgehalt und Schreibstil, Kürze und Bebilderung sind in diesem kleinen Bändchen in hoher Qualität zusammengeführt worden.
Der Autor August Sanitz, seines Zeichens nach Architekturprofessor, überblickt Leben und Werk in knappen und reichhaltigen Artikeln, spürt Schritt für Schritt in einer Werkaufzählung detektivisch nach, warum Josef Hoffmann eigentlich die Inkarnation der Wiener Werkstätte ist.
Und dazu noch absolut lesenswert und besser als jeder Wikipedia-Artikel zu diesem Thema, außerdem günstig zu haben. Besser kann man die Quintessenz zu diesem Künstler, der mit anderen Designern an der Schwelle zur Moderne stand, bzw. wichtige Impulse setzte und im Grunde genommen ein Avantgardist war, nicht in Worte gießen.

Hoffmann
August Sarnitz, Peter Gössel
Hardcover, 21 x 26 cm, 96 Seiten
€ 9,99

 

 

Angelika Taschen / Gabriele Fahr-Becker
Wiener Werkstätte

 

Ineinander verschränkte „W“ bilden das Markenzeichen für den Zusammenschluss von innovativen Avantgardisten Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Wiener Werkstätte gilt als einer der wichtigsten Strömungen der Moderne. Dieses Überblickswerk fasst alles

Wiener Werkstätte Gabriele Fahr-Becker, Angelika Taschen Hardcover, 24 x 31,6 cm, 240 Seiten
Wiener Werkstätte Gabriele Fahr-Becker, Angelika Taschen Hardcover, 24 x 31,6 cm, 240 Seiten

zusammen, was im Zusammenhang mit dieser Avantgarde steht: Gründungsmythos, 92 Biogramme der Protagonist_Innen, die wichtigsten Bauwerke und Designobjekte aus der Zeit vor und kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Wie sehr der japanische Einfluss in den Entwürfen und Zeichnungen Egon Schieles und Gustav Klimt zum Tragen kam, wird ebenso deutlich wie der japanische Einfluss in den Bauwerken von Josef Hoffmann und den Interieurs eines Eduard Josef Wimmer-Wisgrill (1882-1961). Manchmal erscheinen uns die in diesem Band abgebildeten Entwürfe und Designobjekte befremdlich, wenn nicht sogar hässlich. Aber sie geben uns das Ästhetikempfinden von Künstlern wieder, die die Jahrhundertwende um 1900 als Zäsur in eine neue Zeit verstanden. Dieses Empfinden ist mit dem vergleichbar, welches Menschen mit der Einführung des Internets, dem Erodieren von Urheberrechten im Internet und der klassischen Medienvermittlungsform und den damit einhergehenden Berufszweigen und der Technologisierung des Alltags verbunden mit einem futuristischen Design, der uns nur vorgaukelt „up-to-date“ zu sein, haben. Dennoch sind die Entwicklungen tiefgreifend, wobei man sich fragen muss, welcher Nachhall stärker in uns vordringt: die Ästhetik einer modern möblierten Küche oder das Design des neuesten iPhone?

Wiener Werkstätte
Gabriele Fahr-Becker, Angelika Taschen
Hardcover, 24 x 31,6 cm, 240 Seiten
€ 19,99

Architektur und Design des Fin-de-Siècle – Ein Streifzug durch die Modernen Europas

Von Daniel Thalheim

Das ausgehende 19. Jahrhundert und sein bis zum Ersten Weltkrieg anhaltender Sog fasziniert uns noch immer. Sei es wegen des Siegeszuges der Fotografie, des Films, des Automobils, oder auch wegen der Kunst und Architektur. Gewundene Ornamente, zackige Formen und geschwungene Blüten lösten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das ab, was wir als Historismus kennen. Architekten und Designer wandten sich von den zuvor stilprägenden klassischen und klassizistischen Formen ab, wandten sich sozialreformerischen Ideen und der Bewahrung handwerklicher Arbeitsmethoden und Techniken zu, um gänzlich neue Formensprachen zu entwickeln: Arts & Crafts, Wiener Sezession, Art Nouveau, Werkstätten- und Werkbundbewegung, Reformarchitektur und Gartenstadt – eine Vielzahl von Modernen.

Aller Anfang ist in England und in Schottland

Während der zunehmenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert fanden immer mehr Befürworter des langsamen Lebensstil Gefallen an der Handwerkskunst und natürlichen Materialien. In einer Zeit als Fortschritt direkt mit einer Mechanisierung der Arbeitswelt verbunden war entwickelten Designer, Künstler und Architekten einen Gegenentwurf zu dieser Moderne. Soziale Ideen des Wohnens und Bauens fanden Eingang in die Philosophien. Der Erhalt der Handwerkskunst sowie philosophische Fragen der persönlichen Existenz und wer der Mensch eigentlich sei spielten ebenfalls Rollen, warum vermehrt Künstler in die Vergangenheit blickten. In England nannte man dies in der Viktorianischen Epoche Gothic Revival. Aus diesem Sud kochte die St. George’s Art Society das auf, was mit dem Rückgriff auf alte kunsthandwerkliche und künstlerische Traditionen Geschichtliches neu interpretiert wurde. Auch in der Malerei übertrug sich dieses Ansinnen mit den sogen. Präraffaeliten. Vor allem die Gartenstadtbewegung schien sich dieser nach Natur sehnende Geist samt seiner Ablehnung gegenüber dem Industriellen eine spätromantische Entsprechung gefunden zu haben, wenngleich auch industrielle und hochmoderne Produkte, wie Stahl und Gußeisen, in den Gestaltungskanon aufgenommen wurden. Doch den damaligen Designern und Architekten ging es um die Verknüpfung verschiedener Werkstoffe und ihrer Ästhetik, was nicht besser als in übersteigerten Formen, rauschhaften Farben und ineinander verschlungenen Ornamenten ausgedrückt werden konnte.

„Die Architektur der Jahrhundertwende zeigt eine enge Verbundenheit mit organischen Formen…“, beschreibt der Fotograf Keiichi Tahara in seinem Vorwort die Neuartigkeit des Designs in Kunsthandwerk und Architektur in Abgrenzung zur klassischen Design- und Architektursprache, die seit der Renaissance immer anders interpretiert wurde. Das Vokabular der Arts-&-Crafts-Bewegung und der europäischen Sezessionen war so neu und anders, dass dieser schöpferische Impuls ins 20. Jahrhundert überdauerte, wenngleich die geschwungenen und arabesken Formen von der strengen Linie von Bauhaus und Postmoderne abgelöst wurden, und heute nur noch im Recyceln in Landhausstilmagazinen wiederzufinden sind.

Die Wiener Sezession

Die größte kontinentale Entsprechung der neu erfundenen Formensprache in England fand sich in Wien und Österreich-Ungarn. Die einstige Boomtown an der Donau gehörte zur wichtigsten Spielwiese von Otto Wagner (1841-1918), Koloman Moser (1868-1918), Gustav Klimt (1862-1918), Josef Hoffmann (1870-1956) und Joseph Maria Olbrich (1867-1908). Ihr Anspruch von Verknüpfung von Kunsthandwerk, Bildenden Künsten und Architektur schlug sich in zahlreichen Bauwerken innerhalb des damals ebenfalls entstandenen Ringstraßensystems nieder. Diese Designer und Künstler verstanden sich auf das Erschaffen von Gesamtkunstwerken. Exotik, Ruhelosigkeit und Dekoration zeichnen die Bauwerke noch heute aus, was einem Adolf Loos (1870-1933) seine Streitschrift „Ornament und Verbrechen“ 1908 veröffentlichen ließ. Im Gegensatz zu den ornamental überfrachteten Bauwerken seiner Zeit blickte er noch vor Bauhaus & Co. auf klarere Formen in der Architektur. Warum nicht das Material für sich sprechen lassen anstatt es mit Bauschmuck vollzukleben, schien er in seiner Schrift gefragt zu haben, die nicht nur Freunde fand. Angefangen von der Evangelischen Waldkirche St. Aegyd am Neuwalde in Österreich 1902-1903, über das Sanatorium Purkersdorf 1904 (bde. von Josef Hoffmann) und bis hin zur Villa Karma 1904-1906 im schweizerischen Clarens bei Montreaux von Adolf Loos, dem Krematorium von Henri Robert (* – +) und Robert Belli (+1923) 1908-1909 im schweizerischen La Chaux-De-Fonds und den prachtvollen Bauwerken Otto Wagners in Wien, wie die Stadtbahnstation am Karlsplatz, das Postsparkassenamt, die Kirche am Steinhof und die Kaiserbadschleuse; alle Bauten schienen, v.a. die von Adolf Loos und Josef Hoffmann, den Geist der Arts-&-Crafts-Bewegung förmlich zu atmen. Somnabul entrückt scheinen heute noch die von Otto Wagner entworfenen Gebäude zu sein.

Henri Robert & Robert Belli Crematorium, La Chaux-de-Fonds Schweiz, 1908–09 (Copyright: © Keiichi Tahara / TASCHEN Presse 2017)
Henri Robert & Robert Belli Crematorium, La Chaux-de-Fonds Schweiz, 1908–09 (Copyright: © Keiichi Tahara / TASCHEN Presse 2017)

Reformstil und Werkbundbewegung in Deutschland

Die Architektur Deutschlands zwischen 1900 und 1933 stand ganz im Einfluss der englischen Reform- und Gartenstadtbewegung, und zum Teil auch unter dem Stern der Wiener Sezession. Die von u.a. Herrmann Muthesius (1861-1927) gegründete Werkbundbewegung mit seinem Epizentrum in Dresden wollte, wie die englische Arts-&-Crafts-Bewegung, Form, Design und Architektur zu einem Gesamtkörper verflechten. Ökonomische Zwänge beeinflussten in Deutschland den ästhetischen Anspruch viel stärker und endete in der Typisierung im Wohnungsbau. Dies führte – sowohl in den Bauten der Industrie als auch der Öffentlichkeit und die des Wohnens – zu einer Versachlichung mit einer monumentalen Überspitzung, deutlich sichtbar z.B. an der Garnisonskirche in Ulm und dem Stuttgarter Bahnhof, die in ihrer Wirkung heute noch beeindruckt, und eine komplette Loslösung von den Sezessionen in Wien, Frankreich und England bedeutet. Zu eigenwillig, zu „deutsch“ erscheinen uns die Bauwerke. Während Peter Behrens und Joseph Maria Olbrich die materielle Schwülstigkeit der Wiener Sezession fortsetzten, finden wir bei Paul Bonatz (1877-1956), Fritz Höger (1877-1949), Wilhelm Kreis (1873-1955) und Bruno Taut (1880-1938) die Hinwendung zur monumentalen Materialwirkung, auch unter Hinzunahme historisch anmutender Formen aus der sog. Gotik. Im Wohnungsbau ist die Tendenz zur Vereinfachung von Formen deutlicher ablesbar. Während noch vor dem Ersten Weltkrieg noch stark mit Ornamenten und ihrer Wiederholung gearbeitet wurde, trat im Zuge des Sozialen Wohnungsbauprogramms in Deutschland das Ornament zugunsten farbiger Flächen und zunehmend schmucklos werdender Fassaden zurück.

Art Nouveau in Frankreich, Belgien und Spanien

Der Aufbruch in die Moderne wird heute von vielen Menschen jedoch mit Art Nouveau gleichgesetzt. Brüssel und Paris gelten noch heute – architektonisch gesehen – als Zentren dessen, was die Deutschen als Jugendstil verstehen wollen. Paris wurde nach der großen Weltausstellung 1889 zu einem Hot Spot der Moderne, nicht nur in der Architektur. Insbesondere die impressiv wirkende Bildhauerkunst und Malerei gelten als Katalysatoren der Moderne. Wie stark diese Impulse auch von der japanischen Farbholzschnittkunst beeinflusst wurde, zeigt ein Blick auf den Sammler Samuel Bing (1838-1905). Der Galerist machte auf die weltweiten Entwicklungen in der Kunst und im Design als einer der ersten Protagonisten der ProtoModerne aufmerksam. Seine 1895 eröffnete Galerie L’Art Nouveau galt als namengebend für den Pariser Stil. Die Künstler des Art Nouveau galten aber auch zugleich als Kenner der japanischen Kunst, die durch Bing Verbreitung und Aufsehen fand. Die Künstler griffen die zweidimensional erscheinende Kunstform des japanischen Farbholzschnitts auf und wandelten die darin abgebildeten Formen ab. Was für die fernöstliche Kunst damals galt, muss für die orientalische Kunst umso mehr gelten – die gezackten Formen, wie sie im frühen 20. Jahrhundert vermehrt auftauchten, finden ihre Ursprünge im antiken Ägypten und in der islamischen Baukunst. Wer genauer in das Schaffen von Samuel Bing blickt, entdeckt ein Flechtwerk von Künstlerbeziehungen von glänzenden Namen wie Henri de Toulouse-Lautrec (1864-1901), Pierre Bonnard (1867-1947), Maurice Denis (1870-1943), Henry van de Velde (1863-1957) und Victor Horta (1861-1947). Wie stark jedoch Orientalismus seine Auflösung in der Architektursprache fand, zeigt das Beispiel der Église Saint-Jean de Montmartre in Paris (1894-1904, Anatole de Baudot (1834-1915)). Schon der farbig eingefasste Eingangsbereich erscheint wie ein Aufgreifen der mittelalterlich-islamischen Mosaik- und Maßwerkkunst. Das in den Fenstern eingearbeitete Maßwerk findet im Kircheninnenraum im Stütz- und Brüstungssystem seine Entsprechung – aber nicht gotisierend im historistisch nachahmenden Stil, Baudot fand seine eigene Sprache mit dem alten Formenrepertoire umzugehen und schuf etwas gänzlich neues. Joseph Ferdinand Cheval (1836-1924) schuf mit dem Palais Idéal (1879 – 1912) eine moderne Groteske. Hector Guimard (1867-1942) schrieb am Beispiel des Castel Béranger (1894-1898) die Formengeschichte der Wohnhausarchitektur neu, wenn es um den Einsatz von gusseisernen Dekorelementen und farbigem Glas, bspw. im Treppenhaus, geht. Auch sein Maison Coillot in Lille (1897-1900) und sein Hotel Mezzara (1910-1911) und die Synagoge De La Rue Pavée in Paris zählen zu den herausragenden Prunkstücken der Architektur des Art Nouveau. Umso bemerkenswerter sind hingegen die Arbeiten von u.a. Antonio Gaudí (1852-1926), der die fließende Form als Ganzes begriff und seine Gebäude, bspw. die Sagrada Família sowie die Casa Milà und Casa Battló (1904-1906), wie aus einem Guss erschienen ließ. Die Vertreter des spanischen Modernismo und die der Katalanischen Bewegungen zeigen ohnehin eine Affinität zum islamischen Kunsthandwerk, was aufgrund der Geschichte und den daraus geborenen Traditionen nachvollziehbar erscheint. Und auch die Prachtentfaltung Italiens findet im Fin-de-Siècle seine Entsprechung.

Keiichi Tahara

Architecture Fin-de-Siècle

mit Essays von Riichi Miyake

Keiichi Tahara. Architecture Fin-de-Siècle Riichi Miyake Hardcover, in Leinen gebunden, 3 Bände im Schuber, 27 x 36,8 cm, 966 Seiten, in einem Karton mit Tragegriff € 250
Keiichi Tahara. Architecture Fin-de-Siècle Riichi Miyake Hardcover, in Leinen gebunden, 3 Bände im Schuber, 27 x 36,8 cm, 966 Seiten, in einem Karton mit Tragegriff € 250

Unmengen von Büchern reflektieren über die Anfänge und Entwicklungen der frühen Moderne: von den Arts-and-Crafts-Gruppierungen in Großbritannien, über die deutsch-österreichischen Sezessionen bis zum französischen Art Nouveau und ähnlichen Bewegungen in Spanien, Italien, Belgien, Osteuropa und in der Schweiz. Ein Buch scheint alle Erkenntnisse zusammenfassen zu wollen. Die Fotografien von Keiichi Tahara verdeutlichen, wie abrupt und neu die neue Strömung als Antipode zum Historismus ab den 1880er Jahren auftrat, aber auch wie variantenreich mit Materialien, Farben und Formen umgegangen wurde. Die profunden Essays von Riichi Miyake zeugen von ihrer hohen Kenntnis über die Ausgangspunkte der Modernen in Architektur und Design in Europa im ausgehenden 19. Jahrhundert, den ohnehin von technologisch und geistig geprägten Umbrüchen, Neuerungen und Umwälzungen geprägten Fin-de-Siècle. Der Werkkoloss erzählt auch von der Begeisterung beider Herausgeber über die Finesse, Kreativität und Grenzüberschreitungen der Architekten, Maler, Grafiker und Designer, die wir heute noch anhand vieler Gebäude und Entwürfen, aber auch in der Malerei sehen können. Die drei Prachtbände vertiefen aber auch, wie die damaligen Künstler ihre Gegenhaltung zur Industrialisierung verstanden und so träumerisch-schwelgende Kunstwerke schufen. Besonders bemerkenswert ist der persönliche Einstieg von Keiichi Tahara und seine 1979 begonnene Reise in die Welt der Sezessionsbewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

 

Keiichi Tahara. Architecture Fin-de-Siècle

Riichi Miyake

Hardcover, in Leinen gebunden, 3 Bände im Schuber, 27 x 36,8 cm, 966 Seiten, in einem Karton mit Tragegriff

€ 250

Der Symbolist aus Bern – Was Ferdinand Hodlers Werk so einzigartig macht

 

Ferdinand Hodler Genfersee mit Salève und Schwänen um 1914 © Privatsammlung Schweiz Foto: Peter Schälchli, Zürich
Ferdinand Hodler Genfersee mit Salève und Schwänen um 1914 © Privatsammlung Schweiz Foto: Peter Schälchli, Zürich

Er muss ein schwieriger Charakter gewesen sein, dessen Zeitgenosse Sigmund Freud an ihm eine wahre Freude gehabt hätte. Ferdinand Hodler (1853-1918) gilt als der wichtigste Maler der Kunst der Klassischen Moderne in der Schweiz. Sein Werk steht autark neben dem seines österreichischen Malerkollegen Gustav Klimt und des Leipzigers Max Klinger, irgendwo zwischen spätem Symbolismus und Romantik und der versachlichten Formensprache des „art noveau“. Die Bundeskunsthalle widmet von Herbst 2017 bis Anfang 2018 dem außergewöhnlichen Maler eine große Ausstellung anlässlich seines Todesjahres.

Von Daniel Thalheim

Antrieb Ehrgeiz

„Hodler, erfüllt von unbedingtem und unduldsamem Ehrgeiz, empfindlich gegenüber jeder Kritik, anfällig auf Lob und abhängig von Zuspruch und Unterstützung, suchte den grossen Erfolg und die allgemeine Anerkennung mit Provokationen, Beziehungen, fanatischer Arbeit, unablässigen Ausstellungen und beliebiger Wiederholung von verkäuflichen Bildern“, schreibt der schweizerische Kunsthistoriker und Experte für die Kunst der Klassischen Moderne Oskar Bätschmann über den Ansporn des Malers, sich aus dem Elend seiner Zeit und seiner Familie freizumachen.

Denn er wuchs in drückender Armut auf und musste schnell auf eigenen Füßen stehen, um sich und, nach Möglichkeit, den Geschwistern zu helfen. Bereits bis 1885 verstarben alle seine Angehörigen, meist an Tuberkulose. Doch schon im zarten Alter von 14 Jahren um etwa 1867 nahm ihn ein Anstreicher zur Lehre auf. In seiner Werkstatt wurden auch Ansichten beliebter Orte als Reise-Souvenirs serienmäßig hergestellt. So kam Ferdinand Hodler in Kontakt mit der angewandten Kunst. Seit 1871 wohnte er in Genf und begann Veduten zu malen, was er aber schnell aufgab.

Er widmete sich dem Selbststudium und erweiterte sein künstlerisches und kunsthistorisches Verständnis und entwickelte bald eine eigenwillige Ausdrucksweise in seiner Malerei, die z.T. auf geringes Verständnis beim geläufigen Kunstpublikum stieß.

Sein eigenwilliger Weg machte sich in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts bezahlt. In seiner Heimat eher achtlos links liegen gelassen, begann Hodlers künstlerischer Stern im Ausland zu steigen. Eine Ausstellung in Paris schien den Durchbruch für ihn zu bedeuten. Doch schon vorher beteiligte er sich intensiv an regionalen und nationalen Kunstschauen, Ausschreibungen und Wettbewerben. Sein unermüdlicher Wille, mit Kunst ein besseres Leben zu haben schuf bereits in seinem Heimatland eine Basis, auf die Hodler später aufbauen konnte. Die 1891 erfolgte Pariser Ausstellung im Salon du Champ-de-Mars muss als vorläufiger Gipfel einer Entwicklung gesehen werden, die nahezu 25 Jahre lang dauerte.

Sein in Paris gezeigtes Bild „Nacht“ sorgte hingegen in der Schweiz für Anstoß. Fortan verursachten einerseits Hodlers Werke in der Schweiz Empörung und öffentliche Kritik, die oftmals in Polemik abdrifteten. Andererseits zahlten Sammler hohe Summen für seine Bilder, die Hodler mitunter auch seriell anfertigte. Er erlangte so zu finanzieller Unabhängigkeit. Um die Jahrhundertwende stand Hodler wirklich auf dem Gipfel seines Erfolges. Die Zahl der Ausstellungen erhöhte sich weiterhin. Skandale um seine Bildmotive blieben ebenso nicht aus wie die Verkäufe von Landschaften und Repliken von ausgestellten Bildern. Eine Krise seines Schaffens muss während des Ersten Weltkriegs festgehalten werden. In Deutschland wurden Hodlers Werke aus Museen und Sammlungen verbannt, weil der Maler mit seiner Unterschrift gegen die Beschießung der Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen protestierte. Er wurde in Deutschland als „Verräter“ beschimpft, ein von 1907 bis 1909 geplantes und ausgeführtes Wandbild in der Aula der Universität Jena mit Brettern zugenagelt. Hodler zog sich in Arbeit zurück.

Ein Symbolist der besonderen Art

Ferdinand Hodler (1853–1918) zählt laut der jüngsten, anlässlich der Ausstellung zu seinem Schaffen veröffentlichten, Mitteilung aus der Bundeskunsthalle zu den bedeutenden und erfolgreichen Schweizer Künstlern des Fin de Siécle und der Jahrhundertwende um 1900. Die erste umfangreiche Werkschau seit nahezu 20 Jahren will mit über 100 Gemälden einen Einblick in das Schaffen des Do-It-Yourself-Künstlers geben.

Ferdinand Hodler Tanne bei Chamby 1905 © Privatsammlung Schweiz Foto: Peter Schälchli, Züric
Ferdinand Hodler Tanne bei Chamby 1905 © Privatsammlung Schweiz Foto: Peter Schälchli, Züric

Hodlers Sonderrolle zwischen dem Ausklingen der Spätromantik und Klassischer Moderne wurde bereits in der Vergangenheit ausgiebig ausgeleuchtet und fand Niederschlag in zahlreichen Aufsätzen und Bücher, doch seine Stellung innerhalb der europäischen Kunstgeschichte wurde noch nicht in Gänze herausgestellt. Durch seine neuartige Verwendung von Figuren, Flächen und Farben positionierte er sich selbstbewusst zwischen dem Schaffen von u.a. Gustav Klimt, Arnold Böcklin, Franz von Lenbach, Ludwig von Hofmann, Auguste Rodin, Lovis Corinth und Max Klinger. Neben Arnold Böcklin und Giovanni Battista Emmanuele Maria Segantini gilt Hodler laut Bundeskunsthalle als „dritter künstlerischer Sendbote aus dem Alpenland“, dessen Formensprache im kaiserlichen Deutschland als Vertreterin einer neuen „germanischen Stilkunst“ angesehen wurde. Die Tendenz dieser robusten Interpretation seiner Ästhetik um 1900 könnte u.a. Ferdinand Hodlers Werk in Vorläuferschaft einer nationalsozialistisch verbrämten Staatskunst stellen. Er selbst hätte sich gegen eine politische Vereinnahmung gewehrt, genauso wie er sich dagegen wehrte, als Symbolist bezeichnet zu werden.

„Die Figurenbilder sind von äusserster Einfachheit des Gedankens und der Komposition, sie sollen nicht ein geheimes Wissen sichtbar machen oder bedeuten, sondern ihren Sinn (zum Beispiel Tag, Empfindung, Unendlichkeit) durch die einfache Form, die Gesten, den Ausdruck und die rhythmische Verbindung der Figuren unmittelbar zeigen“, heißt es aus der Bundeskunsthalle zu Hodlers Bildsprache. Dennoch standen viele Themen seiner Figurenbilder den Bildinhalten der Maler nahe, die Geheimlehren und ihre Symbolik zu verbildlichen versuchten. Werke wie etwa „Eurhythmie“, „Tag“, „Empfindung“, „Heilige Stunde“ und „Blick in die Unendlichkeit“ seien demzufolge auf unmittelbare Verständlichkeit angelegt, während etwa Wahrheit durch die konventionelle Allegorie aufgespalten ist – in Darstellung und Bedeutung.

 

Ferdinand Hodler Genfersee mit rhytmischen Wolken um 1914 © Privatsammlung Schweiz Foto: Peter Schälchli, Zürich
Ferdinand Hodler Genfersee mit rhytmischen Wolken um 1914 © Privatsammlung Schweiz Foto: Peter Schälchli, Zürich

Gleichklang und Symmetrie in Ferdinand Hodlers Bildern

Wer den Gleichklang, die strengen Figuren und die Geometrie in Ferdinand Hodlers Bildern analysiert und diese mit Zeitgenossen wie Gustav Klimt vergleicht, muss sich zwangsläufig mit der aufkommenden Arts&Crafts-Bewegung beschäftigen. Vertreter dieser Strömung begannen in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts Ornamente und Dekorationen zu versachlichen und zu vereinfachen. Dieses industriell und seriell erscheinende Vereinfachungsprinzip setzte sich schnell auch in der Malerei und Grafik durch, fand v.a. seine Entsprechung in der kunsthandwerklich geprägten Strömung des „art noveau“ bzw. „modern style“. Die französischen Fauves und die deutschen Expressionisten griffen die strenge Linie und die flächige Form in ihren Bildern besonders konsequent auf. Ferdinand Hodler verband diese Strenge mit der ausgeprägten Figürlichkeit der für das 19. Jahrhundert so typischen Malerei. Mit diesem Anspruch steht er in einer Linie mit Gustav Klimt (1862 – 1918) und Max Klinger (1857 – 1920).

Was wurde durch die Vereinfachung von der Form und Farbe erreicht? Mit seinem damals umstrittenen Bild „Nacht“ und der daran folgenden Reihe versuchte Hodler romantische Vorstellungswelten zu steigern, wenn nicht sogar aus dem romantischen Licht der Verklärung zu zerren und durch Symmetrie der Bildfläche, Parallelität der Figuren und Reduktion der Farbigkeit einen verhaltenen Pathos zu erschaffen, der fast schon an Monumentalität grenzte – horizontal und auch vertikal. Selbst der Gleichklang von Bewegungen interessierte den Künstler.

Der Begriff des Parallelismus geht auf Designer und Architekten wie Charles Blanc und Gottfried Semper zurück, die mit ihren Schriften „Grammaire des Arts du Dessin“ (Blanc, 1867) und „Der Stil“ (Semper, 1860/62) die Grundlagen für Hodlers Arbeit bilden sollten. Dieses Prinzip passt auch zur der Arbeitsmethode des Seriellen, die er während seiner Anstreicherlehre kennengelernt hatte. Er konkretisierte seine Arbeitsmethoden hin zu dem Arbeiten mit Durchschlägen und Repliken von Schattenwürfen bzw. Umrisszeichnungen an Glasscheiben. Seine maschinell wirkende Entwurfsarbeit galt als sehr ausgefeilt, fast schon akribisch. Er schuf von einem Bild mehrere Entwürfe und Modellstudien, was zur Herstellung unterschiedlicher Bildfassungen führen konnte.

Auch sein unermüdliches Arbeiten mit Ornamenten und geometrischen Figuren passt in das Bild, das wir von Ferdinand Hodlers Zeit während seiner kunsthandwerklichen Prägephase kennen. In der Landschaftsmalerei beschäftigte Hodler sich mit Farbe und Licht, griff häufig geologische Motive auf. Ebenmäßigkeit und Gleichklang beherrschen seine Sujets, wie in seinem 1911 entstandenen Bild „Genfersee mit Jura“ oder auch im „Der Grammont“ (1905) sowie im Bild „Genfersee mit rhythmischen Wolken“ (1914). Wie vor ihm Arnold Böcklin versuchte Ferdinand Hodler in seinen letzten 20 Lebensjahren Landschaften für mystische oder religiöse Bedeutungen zu nutzen. Er überhöhte die Landschaften, indem er sie mit Wolkenornamente umkränzte oder „auratischen Lichträndern“ mystisch auflud. Ihm ging es zuletzt um die absolute Darstellung von Licht. Auch die Farbe Blau spielte in diesen späten Werken eine besondere Rolle. Als Farbe der Ferne, Sehnsucht und Ungreifbarkeit hat Johann Wolfgang von Goethe in seiner Farbenlehre das Blau umschrieben. In der Romantik wurde deshalb die Farbe zum zentralen Motiv der Ungreifbarkeit, für die Surrealisten galt Blau als Farbe des Traums und des Unbewussten. Sie steht aber auch für Klarheit und Intellektualität. In diese Zusammenhänge müssen die Werke der Symbolisten gestellt werden, auch die von Ferdinand Hodler.

FERDINAND HODLER

MALER DER FRÜHEN MODERNE

8. September 2017 bis 28. Januar 2018

Literatur

  • C. A. Loosli, F. H., 4 Bde., 1921-24 (P); E. Bender u. W. Y. Müller, Die Kunst F. H.s, 2 Bde., 1923/41 (P).
  • H. Mühlestein u. G. Schmidt, F. H., 1942; W. Hugelshofer, F. H., 1952.
  • J. Brüschweiler, F. H. u. s. Sohn Hector, in: Neuj.bl. d. Zürcher Kunstges. 1966/67.
  • H. Ch. v. Tavel, F. H., Die Nacht, Werkmonogrr. z. bildenden Kunst Nr. 135, 1969.
  • Künstler-Lex. d. Schweiz, XX. Jh., 1958-61.
  • ThB; HBLS (P). – Ausstellungs-Kataloge: Bern, Kunstmus., 1921 u. 1968.
  • Wander-Ausstellung (veranstaltet v. d. Stiftung Pro Helvetia) in Köln, Hamburg, München, 1954.
  • Zürich, Landschaften d. Reife u. d. Spätzeit, 1964; Wien, Neue Secession, 1962/63.
  • Walter Hugelshofer, „Hodler, Ferdinand“ in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 299-300 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/gnd118551817.html#ndbcontent
  • Tobia Bezzola, Paul Lang, Ferdinand Hodler – Landscapes, Zürich 2004.
  • Heinz Bütler, Peter Bichsel, Robert Walser, Ferdinand Hodler – das Herz ist mein Auge: Blicke auf Bilder von Mensch, Natur, Liebe und Tod, 2004.
  • William Hauptmann, Ferdinand Hodler, 2007.
  • Oskar Bätschmann, Paul Müller Ferdinand Hodler: Catalogue raisonné der Gemälde, Band 1, 2008.
  • Ulf Küster, Ferdinand Hodler, 2012.
  • Beatrice Meier, Ferdinand Hodler, in: Historisches Lexikon der Schweiz; URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D19084.php
  • SIKART, Lexikon zur Kunst in der Schweiz, Ferdinand Hodler; URL: http://www.sikart.ch/KuenstlerInnen.aspx?id=4000055
  • Bundeskunsthalle, Ferdinand Hodler – Maler der frühen Moderne, Ausstellungstext; URL: http://www.bundeskunsthalle.de/ausstellungen/index.html